anderen Flecken verschwunden, die sich durch die braunlichen Weiten des uberdachten Himmels schwangen.

»Kiste«, sagte sie. »Jetzt kommt dein gro?er Moment.« Sie horte seine Stimme im Kopf. »Vertrau mir. Diesmal habe ich ein sehr gutes Gefuhl.«

Der Rat des Captains war ausgezeichnet, dachte Ilia Volyova. Nagorny zu toten war immer die einzig gangbare Moglichkeit gewesen. Und Nagorny hatte ihr die Entscheidung sehr erleichtert, indem er seinerseits als Erster einen Anschlag auf sie verubte und ihr damit alle moralischen Bedenken abnahm.

Das war schon vor etlichen Monaten Schiffszeit geschehen. Sie hatte die unangenehme Pflicht nur immer wieder aufgeschoben. Doch jetzt wurde das Schiff in Kurze in die Umlaufbahn um Yellowstone einschwenken und die anderen wurden aus dem Kalteschlaf erwachen. Das wurde sie in ihren Moglichkeiten sehr beschranken. Sie musste ja den Anschein wahren, als sei Nagorny im Kalteschlaf an einer dafur geeigneten Storung seines Kryo- Tanks gestorben.

Also musste sie rasch handeln. Sie sa? ruhig in ihrem Labor und sammelte Krafte, um zu tun, was notig war. Volyovas Kabine war fur die Verhaltnisse der Sehnsucht nach Unendlichkeit eher bescheiden; dabei hatte sie sich auch eine feudale Suite zuweisen konnen. Aber wozu? In ihren wachen Stunden war sie fast ausschlie?lich mit Waffensystemen beschaftigt. Und wenn sie schlief, traumte sie von Waffensystemen. Sie genehmigte sich — genie?en ware ein zu starker Ausdruck gewesen — einige wenige Freuden, fur die sie Zeit fand, und dafur war Platz genug. Sie hatte ein Bett und ein paar nach rein praktischen Gesichtspunkten gestaltete Mobelstucke, obwohl das Schiff ihre Kabine in jedem nur denkbaren Stil hatte ausstatten konnen. In einem Nebenraum hatte sie sich ein kleines Labor eingerichtet und hier hatte sie der Einrichtung gro?ere Aufmerksamkeit gewidmet. In diesem Labor experimentierte sie mit Therapien fur den Captain, mit verschiedenen Arten der Seuchenbekampfung, die aber noch zu abstrakt waren, um der ubrigen Mannschaft davon zu berichten. Sie wollte keine falschen Hoffnungen wecken.

Und seit sie Nagorny getotet hatte, bewahrte sie hier auch seinen Kopf auf.

Er war naturlich eingefroren. Er steckte in einem alten Raumhelm-Modell, das sofort auf Kryo-Konservierung umgeschaltet hatte, als es entdeckte, dass sein Insasse nicht mehr am Leben war. Volyova hatte auch von Helmen gehort, in deren Halsteil rasiermesserscharfe Iriden eingebaut waren, die den Kopf im Fall einer Katastrophe rasch und sauber vom Rumpf trennten — das war hier nicht der Fall gewesen.

Immerhin hatte der Mann einen interessanten Tod gehabt.

Volyova hatte den Captain geweckt, um ihm die Situation zu schildern. Der Waffenoffizier hatte — offenbar durch ihre Experimente — den Verstand verloren. Sie beschrieb die Probleme, auf die sie gesto?en war, als sie Nagorny uber die Implantate, die sie selbst ihm eingesetzt hatte, an den Leitstand anschlie?en wollte. Sie erwahnte fluchtig, dass Nagorny von standig wiederkehrenden Albtraumen geplagt wurde, doch dann kam sie schnell zum Hauptpunkt: der Rekrut hatte sie angegriffen und war anschlie?end in den Tiefen des Schiffes verschwunden. Der Captain war auf die Albtraume nicht weiter eingegangen und daruber war Volyova zunachst sehr froh gewesen. Sie sprach nicht gern uber diese Traume und schon gar nicht wollte sie sich mit ihrem Inhalt auseinandersetzen.

Hinterher hatte sich das Thema jedoch nicht mehr so leicht beiseite schieben lassen. Das lag daran, dass es sich nicht einfach um irgendwelche Albtraume handelte, was an sich schon beunruhigend gewesen ware. Nein, nach allem, was sie in Erfahrung bringen konnte, war Nagorny von immergleichen, ungemein realistischen Traumbildern gequalt worden, in denen zumeist ein Wesen namens Sonnendieb die Hauptrolle spielte. Dieser Sonnendieb war Nagornys personlicher Peiniger. In welcher Gestalt er dem Kranken erschien, lie? sich nicht genau beschreiben, doch er verbreitete ohne jeden Zweifel eine uberwaltigende Atmosphare des Bosen. Volyova hatte etwas davon in den Skizzen gespurt, die sie in Nagornys Unterkunft gefunden hatte: grassliche Vogelgestalten, mit hektischen Bleistiftstrichen aufs Papier geworfen, Gerippe mit leeren Augenhohlen. Wenn das ein Blick in Nagornys krankes Hirn war, dann hatte sie mehr als genug gesehen. Aber in welcher Beziehung standen diese Wahngebilde zu den Trainingsperioden im Feuerleitstand? Durch welchen unbekannten Defekt in ihrem neuralen Interface wurden Strome in jenen Teil des Bewusstseins geleitet, der Schreckensbilder erzeugte? Im Ruckblick war ihr klar, dass sie den Mann zu hart angepackt, zu sehr zur Eile gedrangt hatte. Aber sie hatte ihrerseits nur Sajakis Anweisung befolgt, fur die Einsatzbereitschaft des Waffenarsenals zu sorgen.

Nagorny war also ubergeschnappt und hatte sich in Teile des Schiffs gefluchtet, die nicht uberwacht wurden. Die Empfehlung des Captains, den Mann zu verfolgen und zu toten, hatte nur bestatigt, was auch ihre eigenen Instinkte ihr rieten. Aber die Suche hatte etliche Tage gedauert. Volyova musste in moglichst vielen Korridoren Sensorennetze auslegen und jedem Hinweis ihrer Ratten auf Nagornys Verbleib nachgehen. Sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Nagorny wurde immer noch auf freiem Fu? sein, wenn das Schiff im Yellowstone-System eintraf und die ubrige Besatzung geweckt wurde…

Doch dann hatte Nagorny in seinem Wahn zwei Fehler begangen, die allem die Krone aufsetzten. Zuerst war er in ihre Kabine eingebrochen und hatte mit seinem eigenen Blut eine Botschaft an die Wand geschrieben. Es war eine sehr einfache Botschaft. Volyova hatte sich denken konnen, welches Wort ihr Nagorny hinterlassen wurde.

SONNENDIEB.

Anschlie?end hatte er, eine fast schon vernunftige Handlungsweise, ihren Raumhelm gestohlen, den Rest des Anzugs aber zuruckgelassen. Der Einbruch hatte Volyova in ihre Kabine gelockt, und dort war sie von Nagorny uberrumpelt worden, obwohl sie sich vorgesehen hatte. Er hatte ihr die Waffe abgenommen, die Arme auf den Rucken gedreht und sie zum nachsten Fahrstuhlschacht geschoben. Volyova hatte sich gewehrt, aber Nagorny hatte die Krafte eines Wahnsinnigen und hielt sie wie in einem Schraubstock. Dennoch rechnete sie damit, dass sich eine Fluchtmoglichkeit ergeben wurde, wenn erst der Fahrstuhl eintraf und Nagorny sie an den Ort seiner Wahl brachte.

Aber Nagorny dachte nicht daran, auf den Fahrstuhl zu warten. Er brach mit ihrer Waffe die Tur auf. Vor ihren Fu?en gahnten die leeren Tiefen des Schachts. Unsanft und ohne ein Wort des Abschieds stie? der Irre Volyova in das Loch.

Das war ein schwerer Fehler.

Der Schacht durchlief das Schiff vom Bug bis zum Heck; sie hatte kilometerweit zu fallen, bevor sie unten aufschlug. Im ersten Schreck hatte sie zunachst auch angenommen, dass es dazu kommen wurde. Sie wurde sturzen, bis sie unten ankam — und ob das nur wenige Sekunden oder fast eine Minute dauerte, war vollkommen bedeutungslos. Die Schachtwande waren spiegelglatt, sie boten nirgends Halt, und es gab nichts, was den Sturz hatte bremsen konnen.

Doch dann hatte sich ihr Verstand eingeschaltet und das Problem noch einmal analysiert — mit einer Gelassenheit, die sie spater schockierend fand. Sie hatte sich selbst von au?en gesehen, aber sie sturzte nicht durch das Schiff, sondern verharrte im Nichts, schwebte vollig reglos vor den Sternen. In Bewegung war vielmehr das Schiff: es raste an ihr vorbei nach oben. Sie selbst stand nicht unter Beschleunigung — und das Schiff wurde nur durch die Triebwerke beschleunigt.

Und die konnte sie uber ihr Armband steuern.

Volyova blieb keine Zeit, uber Einzelheiten nachzudenken. Sie hatte eine Idee — zundend wie eine Explosion — und wenn sie die nicht sofort ausfuhrte, musste sie sich wohl oder ubel in ihr Schicksal ergeben. Sie konnte ihren Sturz — ihren scheinbaren Sturz — bremsen, indem sie den Schub des Schiffs so lange umkehrte, wie es erforderlich war, um die gewunschte Wirkung zu erzielen. Derzeit betrug der Nominalschub 1 Ge, deshalb hatte Nagorny das Schiff auch ohne weiteres mit einem hohen Gebaude verwechselt. Sie war vielleicht zehn Sekunden gefallen, bis ihr Verstand die Lage so weit erfasst hatte. Was also brauchte sie? Zehn Sekunden Retroschub mit 1 Ge? Nein, das war zu konservativ gedacht. Womoglich war der Schacht unter ihr nicht lang genug. Da war es schon besser, fur eine Sekunde auf zehn Ge zu gehen — die Triebwerke konnten das schaffen. Die ubrige Besatzung lag sicher in ihren Kalteschlaftanks und wurde keinen Schaden nehmen. Auch ihr selbst wurde nichts passieren — sie konnte nur beobachten, wie die vorbeirasenden Schachtwande schlagartig langsamer wurden.

Nagorny war allerdings nicht so gut geschutzt.

Вы читаете Unendlichkeit
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату