»Bis in die kleinsten Einzelheiten.«

Die Gondel befand sich jetzt uber dem Denkmal fur die Achtzig. Khouri hatte es noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen. Von der Stra?e aus strahlte es wurdevolle Erhabenheit aus, aber von oben wirkte es stark verwittert, ein eher trauriger Anblick. Von der Form her war es eine vierseitige Pyramide, die man mit schmalen Simsen zum Stufentempel aufgerustet hatte. Der untere Teil verschwand hinter einem Ekzem aus Baracken und Armierungen. Unterhalb der Spitze waren Buntglasscheiben in die Marmorverkleidung eingelassen, aber das Glas war zum Teil zerbrochen und durch Blech ersetzt. Von der Stra?e aus waren die Schaden nicht zu sehen. Hier also sollte der Abschuss stattfinden. Es war ungewohnlich, den Schauplatz im Voraus zu kennen, aber vielleicht hatte dieser Taraschi auch das in seinem Kontrakt ausdrucklich vermerkt. Im Allgemeinen unterschrieb man einen Kontrakt mit den Schatten nur dann, wenn man sich gute Chancen ausrechnete, ihrem Attentater uber die vertraglich festgelegte Zeitspanne hinaus entkommen zu konnen. Auf diese Weise bekampften die praktisch unsterblichen Reichen die Langeweile, zwangen sich selbst, die eingefahrenen Geleise zu verlassen — und hatten etwas, womit sie prahlen konnten, wenn sie, was meistens der Fall war, den Kontrakt uberlebten.

Khouri konnte ihre Verbindung zu den Schatten sehr genau datieren. Sie war an dem Tag in die Organisation eingetreten, als sie im Orbit um Yellowstone in einem vom Eisbettelorden betriebenen Karussell reanimiert wurde. Obwohl es um Sky’s Edge keine Vertreter dieses Ordens gegeben hatte, hatte sie schon von ihm und seiner Funktion gehort. Es handelte sich um eine religios gepragte Gemeinschaft von Freiwilligen, die es ubernommen hatten, all jene zu betreuen, die bei der Durchquerung des interstellaren Raumes ein irgendwie geartetes Trauma erlitten hatten. Die Reanimations-Amnesie, eine haufige Nebenwirkung des Kalteschlafs, war ein solches Trauma.

Darunter zu leiden ware an sich schon schlimm genug gewesen. Manchmal war der Gedachtnisverlust so schwer, dass Jahre des fruheren Lebens wie ausgeloscht waren. Khouri wusste nicht einmal mehr, dass sie einen Interstellarflug angetreten hatte. Doch ihre letzten Erinnerungen waren sogar recht detailliert. Sie hatte auf Sky’s Edge in einem Sanitatszelt neben Fazil, ihrem Mann, in einem Bett gelegen. Beide waren bei einem Feuerwehreinsatz verletzt worden; ihr Zustand war nicht lebensbedrohend, aber ihre Brandwunden lie?en sich am besten in einem der Orbithospitaler behandeln. Ein Pfleger war gekommen und hatte ihnen erklart, sie seien fur einen kurzen Kalteschlaf eingeteilt. Man wolle sie herunterkuhlen, mit einem Shuttle in den Orbit bringen und dort in einem Kalteschlaftank so lange Zwischenlagern, bis auf dem Operationsplan des Hospitals ein Platz frei wurde. Das konne Monate dauern, aber der Pfleger versicherte ihnen lachelnd, aller Voraussicht nach sei der Krieg noch nicht zu Ende, wenn sie wieder einsatzfahig waren. Khouri und Fazil hatten ihm vertraut. Schlie?lich waren sie beide Berufssoldaten.

Als Khouri nach der Reanimation erwachte, lag sie nicht auf der Genesungsstation des Orbithospitals. Stattdessen sah sie sich mit Angehorigen des Eisbettelordens konfrontiert, die mit Yellowstone-Akzent auf sie einredeten. Nein, erklarten sie. Sie leide nicht unter Gedachtnisschwund. Und sie habe auch keine anderen Kalteschlafschaden erlitten. Es sei wesentlich schlimmer.

Es war, um mit den Worten des obersten Bruders zu sprechen, zu einer Verwechslung gekommen. Unweit von Sky’s Edge war die Kryo-Anlage von einer Rakete getroffen worden. Khouri und Fazil gehorten zu den wenigen Glucklichen, die mit dem Leben davonkamen, aber bei dem Angriff waren alle Datenspeicher der Anlage zerstort worden. Das Personal hatte sein Moglichstes getan, um die Eingefrorenen zu identifizieren, aber dabei waren Fehler nicht zu vermeiden gewesen. Khouri hatte man fur eine Demarchistin gehalten, die als Kriegsbeobachterin nach Sky’s Edge gekommen war und sich auf der Heimreise nach Yellowstone befand, als sie in den Raketenangriff geriet. Man hatte sie im Schnellverfahren zuerst auf den Operationstisch und dann auf ein Raumschiff gebracht, das unmittelbar darauf startete. Leider hatte man bei Fazil nicht den gleichen Fehler gemacht. Wahrend Khouri im Schlaf auf dem Weg nach Epsilon Eridani Lichtjahre zurucklegte, wurde Fazil mit jedem Jahr ihres Fluges ein Jahr alter. Naturlich, sagten die Angehorigen des Bettelordens, sei die Verwechslung rasch entdeckt worden — aber da war es schon viel zu spat. Selbst wenn Khouri sofort nach Sky’s Edge zuruckgeflogen ware (was wiederum unmoglich war, weil alle derzeit um Yellowstone parkenden Schiffe andere Zielhafen angegeben hatten), waren fast vierzig Jahre vergangen, bis sie Fazil wiedergesehen hatte. Und Fazil hatte den gro?ten Teil dieser Zeit nicht gewusst, dass sie auf dem Heimweg war; nichts konnte ihn hindern, die Scherben seines Lebens aufzusammeln, eine neue Ehe zu schlie?en und Kinder zu zeugen. Bis sie kame, hatte er womoglich schon Enkel, und sie ware nur ein Geist aus einem fruheren Leben, das er inzwischen fast vergessen hatte. Immer vorausgesetzt naturlich, er ware nicht sofort nach seiner Ruckkehr im Kampf gefallen.

Bis zu dem Augenblick, als ihr der Bruder die Situation erklarte, hatte sich Khouri eigentlich nie klar gemacht, wie langsam sich das Licht bewegte. Zwar gab es im ganzen Universum nichts Schnelleres… aber jetzt begriff sie, dass es verglichen mit der Geschwindigkeit, die sie gebraucht hatte, um ihre Liebe am Leben zu erhalten, so trage war wie ein Gletscher. In diesem grausamen Augenblick der Erkenntnis begriff sie, dass nichts Geringeres als die Naturgesetze, die Grundlagen des Universums, sich verschworen hatten, um ihr diesen entsetzlichen Verlust zu bereiten. Eine endgultige Todesnachricht ware so unendlich viel einfacher zu bewaltigen gewesen als diese schreckliche Trennung, diese unuberbruckbare Kluft in Raum und Zeit. Der Zorn wuhlte in ihr wie ein Messer, er musste heraus, sollte er sie nicht von innen zerfleischen.

Als noch am gleichen Tag der Mann kam und ihr eine Stellung als Vertragskiller anbot, fiel es ihr uberraschend leicht, die Stellung anzunehmen.

Der Mann hie? Tanner Mirabel und war ebenfalls Soldat auf Sky’s Edge gewesen. Nun suchte er als Kopfjager nach talentierten Attentatern. Sein Agentennetz hatte ihm ihre soldatischen Verdienste gemeldet, sobald sie aus der Kryo-Kammer kam. Mirabel vermittelte sie an einen Kontaktmann, einen prominenten Hermetiker namens Ng. Bald schon wurde sie zum Vorstellungsgesprach bei Mr. Ng eingeladen, dann folgte eine Reihe von psychometrischen Tests. Attentater mussten offenbar die vernunftigsten und nuchternsten Menschen auf dem ganzen Planeten sein. Sie mussten genau unterscheiden konnen, wann ein Abschuss rechtens war — und wann sie die manchmal recht unscharfe Grenze zum Mord uberschritten und damit die Aktien eines Unternehmens in die tiefsten Tiefen des Mulch sturzten.

Sie bestand alle Tests mit Leichtigkeit.

Es gab auch Prufungen anderer Art. Manchmal verlangten Vertragspartner ganz ausgefallene Hinrichtungsmethoden, obwohl sie insgeheim uberzeugt waren, es wurde nie so weit kommen, und sich fur klug und geschickt genug hielten, einen Attentater selbst uber Wochen und Monate an der Nase herumzufuhren. Khouri musste sich mit den unterschiedlichsten Waffen vertraut machen und legte dabei eine Begabung an den Tag, die sie niemals in sich vermutet hatte.

Aber eine Waffe, wie die Zahnfee sie hinterlegt hatte, war ihr noch nie untergekommen.

Schon nach einer Minute hatte sie herausgefunden, wie die Teile zusammengesetzt werden mussten. Im Ganzen sah die Waffe aus wie ein Scharfschutzengewehr mit einem lacherlich dicken, perforierten Lauf. Im Patronengurt steckten eine Reihe von pfeilformigen Projektilen, die aussahen wie schwarze Schwertfische und durch ein winziges Symbol dicht unter der Spitze als Biowaffen gekennzeichnet waren. Der holografische Totenschadel hatte ihr Misstrauen geweckt. Sie hatte noch nie Giftstoffe gegen ein Opfer eingesetzt.

Und was hatte der Treffpunkt am Denkmal zu bedeuten?

»Kiste«, sagte Khouri, »da ist noch etwas…«

Doch in diesem Moment setzte die Gondel auf der Stra?e auf und die Rikscha-Fahrer spritzten hektisch strampelnd auseinander. Der Fahrpreis erstrahlte auf ihrer Netzhaut. Sie zog den kleinen Finger durch den Kreditschlitz und belastete ein sicheres Baldachin-Konto, das nicht nach Omega Point zuruckverfolgt werden konnte. Das war von gro?ter Wichtigkeit, sonst hatte jede Zielperson mit guten Beziehungen die Bewegungen ihres Attentaters an Hand der Wellen verfolgen konnen, die dieser im maroden Finanzsystem des Planeten schlug. Ohne Tarnung und falsche Fahrten konnte man in diesem Beruf nicht arbeiten.

Khouri stie? die Knickflugeltur auf und sprang hinaus. Es regnete leicht, wie immer hier unten. Innenregen nannte man das. Sofort stieg ihr der Geruch des Mulch in die Nase, eine Mischung aus Kloake und Schwei?, Kuchenduften, Ozon und Rauch. Ebenso allgegenwartig war der Larm. Das Rollen der Rikschas, das Lauten und Tuten, mit dem sie sich bemerkbar machten, bildeten zusammen mit dem Geschrei von Verkaufern und von eingesperrten Tieren, den Darbietungen von Stra?ensangern und den Stimmen von Hologrammen, die sich in so unterschiedlichen Sprachen wie Neu-Norte und Canasisch artikulierten, eine feste akustische Kulisse.

Sie setzte sich einen breitkrempigen Hut auf den Kopf, knopfte ihren knielangen Mantel zu und stellte den Kragen auf. Die Gondel hob sich vom Boden, griff nach einem durchhangenden Kabel und war bald zwischen den

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