Dann tauchten bei den ersten Freiwilligen seltsame Krankheitsbilder auf. Sie hatten verheerende Zusammenbruche oder verfingen sich in Endlosschleifen.«
»Sie sagten, sie hatte Gluck gehabt?«
»Einige von den Achtzig laufen noch immer«, sagte Taraschi. »Sie haben sich einhundertfunfzig Jahre lang erhalten. Nicht einmal die Seuche konnte ihnen etwas anhaben — sie waren bereits in sichere Computer im so genannten
»Und Ihre Mutter?«
»Hat mir vorgeschlagen, zu ihr zu kommen. Die Scanner sind wesentlich besser geworden; sie bringen einen nicht mehr zwangslaufig um.«
»Wo liegt dann das Problem?«
»Ich ware nicht mehr ich, oder? Ich ware nur eine Kopie — und das wusste auch meine Mutter. Jetzt dagegen…« Wieder betastete er die kleine Wunde. »Jetzt werde ich in der realen Welt unwiderruflich sterben, und die Kopie ist alles, was von mir bleibt. Ich habe Zeit genug, mich scannen zu lassen, bevor das Gift messbare Ausfalle in meinen Neuralstrukturen verursacht.«
»Warum haben Sie es sich nicht einfach spritzen lassen?«
Taraschi lachelte. »Das ware zu steril gewesen. Immerhin will ich Selbstmord begehen — und das sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Indem ich Sie engagierte, konnte ich die Entscheidungsphase verlangern und den Zufall mit ins Spiel bringen. Wenn ich meine Meinung andern und das Leben wahlen wollte, brauchte ich mich nur zur Wehr zu setzen, wobei trotzdem noch die Moglichkeit bestand, dass Sie siegten.«
»Russisches Roulette ware billiger gewesen.«
»Zu schnell, zu unkontrollierbar und bei weitem nicht so stilvoll.« Er trat auf sie zu, griff — bevor sie zuruckweichen konnte — nach ihrer Hand und schuttelte sie. Wie nach einem erfolgreichen Geschaftsabschluss. »Ich danke Ihnen, Ana.«
»Sie danken mir?«
Ohne zu antworten, ging er an ihr vorbei. Es war plotzlich laut geworden. Schritte kamen die Treppe herauf. Die Barrikade gab nach, der Schadelberg sturzte ein, eine Kobaltvase zerbrach. Khouri horte das leise Surren von Kameradrohnen, doch dann tauchten andere Personen auf, als sie erwartet hatte. Sie waren anstandig, aber nicht auffallend gekleidet und gehorten ganz offensichtlich zur alten Aristokratie. Drei alteren Mannern in Ponchos, mit breitkrempigen Huten und Schildpattbrillen zur Steuerung der Kameradrohnen, die uber ihnen schwebten wie ergebene Dienstboten, folgten zwei Bronze-Palankine, davon einer so klein wie fur ein Kind. Ein Mann in lilafarbenem Torerojackchen hielt eine kleine Kamera in der Hand. Zwei weibliche Teenager trugen Schirme, die mit Kranichen und chinesischen Piktogrammen bemalt waren. Zwischen den Madchen stand eine altere Frau, deren vollig farbloses Gesicht an eine lebensgro?e Origami-Figur erinnerte: vielfach gefaltet, wei? und leicht verletzlich. Sie fiel weinend vor Taraschi auf die Knie. Khouri hatte sie noch nie gesehen, aber sie wusste sofort, dass das Taraschis Ehefrau sein musste. Der kleine giftgefullte Schwertfisch hatte ihr den Gatten geraubt.
Endlich richtete sie ihre klaren, rauchgrauen Augen auf Khouri und sagte ohne den leisesten Groll in der Stimme: »Hoffentlich hat man Sie gut bezahlt.«
»Ich habe nur meine Arbeit getan«, sagte Khouri, aber die Worte blieben ihr fast in der Kehle stecken. Die Leute fuhrten Taraschi die Treppe hinunter und entfernten sich mit ihm. Sie sah ihnen nach. Die Frau drehte sich noch einmal um und sah sie ein letztes Mal vorwurfsvoll an. Khouri horte die Schritte auf dem Zementboden. Minuten vergingen, dann war sie allein.
Bis sich hinter ihr etwas bewegte. Khouri fuhr herum und brachte automatisch das Giftgewehr in Anschlag. In der Kammer steckte ein neuer Pfeil.
Zwischen zwei Schreinen erschien ein Palankin.
»Kiste?« Sie senkte die Waffe — viel konnte sie damit ohnehin nicht ausrichten, nachdem das Gift so genau auf Taraschis Biochemie abgestimmt war.
Aber das war nicht Kistes Sanfte. Dieser Palankin war einfarbig schwarz, ohne Verzierungen und ohne Aufschrift. Und jetzt offnete er sich — das hatte sie noch nie erlebt — und entlie? einen Mann, der furchtlos auf sie zuging. Er trug ein lilafarbenes Torerojackchen, keinen Schutzanzug, wie man erwartet hatte, wenn jemand Angst vor der Seuche hatte. In einer Hand hielt er ein modisches Accessoire: eine winzige Kamera.
»Kiste ist abgemeldet«, sagte der Mann. »Sie haben von jetzt an nichts mehr mit ihm zu tun, Khouri.«
»Wer sind Sie — einer von Taraschis Verwandten?«
»Nein — ich kam nur mit, um zu sehen, ob sie wirklich so gut sind, wie alle Welt behauptet.« Der Mann hatte einen weichen Akzent, den sie nicht zuordnen konnte — er gehorte nicht ins System, aber auch nicht nach Sky’s Edge. »Und ich muss leider sagen, Sie werden Ihrem Ruf gerecht. Das hei?t, dass wir — von jetzt an — beide fur denselben Auftraggeber arbeiten.«
Sie uberlegte, ob sie ihm einen Pfeil ins Auge schie?en sollte. Er wurde ihn zwar nicht toten, konnte aber seinen Ubermut ein wenig dampfen. »Und wer sollte das sein?«
»Die Mademoiselle«, sagte der Mann.
»Nie von ihr gehort.«
Er hob die kleine Kamera. Die Linse offnete sich wie ein besonders raffiniertes Faberge-Ei, Hunderte von wertvollen Jadesplittern anderten ihre Position. Khouri schaute plotzlich in die Mundung einer Waffe.
»Nein, aber sie hat von Ihnen gehort.«
Drei
Laute Stimmen rissen ihn aus dem Schlaf.
Sylveste griff nach seinem Blindenwecker und ertastete die Position der Zeiger. Er hatte heute eine Verabredung; in einer knappen Stunde. Der Tumult drau?en war dem Wecker nur um Minuten zuvorgekommen. Neugierig schlug er die Laken zuruck, stieg aus seiner Koje und stolperte an das hohe, vergitterte Fenster. Am Morgen nach dem Aufwachen war er zunachst immer halb blind, bis sich seine Augen durch den Systemcheck gestottert hatten. Alles war wie mit gro?en farbigen Tuchern verhullt, als sei ein Trupp ubereifriger Kubisten in der Nacht in sein Zimmer eingedrungen und habe alles umdekoriert.
Sylveste zog den Vorhang auf. Er war nicht klein, aber er konnte nur dann in einem vernunftigen Winkel aus dem Fensterchen schauen, wenn er sich auf einen Stapel gedruckter Bucher — alter Faksimile-Ausgaben — aus seinen Regalen stellte. Auch dann war die Aussicht nicht berauschend. Cuvier war in und um eine geodatische Kuppel errichtet und bestand uberwiegend aus rechteckigen Gebauden mit sechs oder sieben Stockwerken, die man in den Anfangstagen der Mission rasch hochgezogen hatte, wobei mehr Wert auf Haltbarkeit gelegt wurde als auf Schonheit. Selbstreparierende Systeme waren nicht darunter, und da immer mit Lecks in der Kuppel gerechnet werden musste, konnten die Gebaude nicht nur Schmirgelsturmen standhalten, sondern waren auch einzeln zu beluften. Die grauen Klotze mit den kleinen Fenstern waren durch Stra?en miteinander verbunden und normalerweise waren immer ein paar Elektrofahrzeuge unterwegs.
Aber nicht heute.
Calvin hatte Sylvestes Augen mit einem Zoom- und Aufzeichnungsmodus versehen, aber die Bedienung erforderte ahnlich viel Konzentration wie die Korrektur einer optischen Tauschung. Zunachst sah Sylveste die Menschen auf der Stra?e nur als perspektivisch verkurzte Strichmannchen. In der Vergro?erung zerfiel die amorphe Masse in aufgeregt gestikulierende Individuen. Zwar konnte er den Mienen nichts entnehmen, er konnte nicht einmal Gesichter unterscheiden, aber die Menschen verrieten sich auch durch die Art ihrer Bewegungen, und fur solche Nuancen hatte er inzwischen einen sehr scharfen Blick. Die Hauptmasse walzte sich hinter einer Barrikade aus Spruchbandern und improvisierten Fahnenstangen uber die Hauptverkehrsstra?e von Cuvier. Der Pobel hatte nur ein paar Schaufenster an der Promenade beschmiert und eine junge Zierquitte ausgerissen, sonst war bisher kaum Schaden entstanden. Die Demonstranten sahen freilich nicht, dass Girardieus Miliz am Ende der