Sterne mehr zu sehen, nur eine einzige alles verhullende Staubwand raste uber sie hinweg wie ein riesiger Fledermausflugel. Wenn sie den Schacht verlie?en, kamen sie direkt in die Holle.

»Ich brauche etwas zum Graben«, sagte er. Und dann begann er, den Permafrost-Boden uber der obersten Sarkophagschicht wegzukratzen. Er arbeitete so hastig wie ein Gefangener, der sich bis zum nachsten Morgen einen Tunnel aus seiner Zelle scharren wollte. Augenblicke spater packten auch Pascale und der Student mit an. Uber ihnen heulte der Sturm.

»Ich wei? nicht mehr viel«, sagte der Captain. »Kreisen wir noch um Bloater?«

»Nein«, sagte Volyova und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihm das schon ein Dutzend Mal erklart hatte, jedes Mal wenn sie sein Gehirn erwarmte. »Wir haben Kruger 60 A vor einigen Jahren verlassen, nachdem uns Hegazi das Eis fur die Abschirmung besorgt hatte.«

»Aha. Wo sind wir dann?«

»Auf dem Weg nach Yellowstone.«

»Wozu das denn?« Die Bass-Stimme des Captains drang grollend aus den Lautsprechern, die in einiger Entfernung von seinem Leichnam aufgestellt waren. Komplexe Algorithmen tasteten seine Hirnstrome ab, ubersetzten das Ergebnis in Sprache und erganzten die Antworten, wo es notig war. Er hatte eigentlich kein Recht, bei Bewusstsein zu sein — an sich erloschen samtliche Neuralaktivitaten, wenn die Temperatur im Korperinnern unter den Gefrierpunkt fiel. Aber sein Gehirn war mit winzigen Maschinen durchsetzt und bei weniger als einem halben Kelvin uber dem absoluten Nullpunkt dachten eigentlich nur noch diese Maschinen.

»Eine gute Frage«, sagte sie. Etwas storte sie, irgendeine Kleinigkeit, die nicht nur mit diesem Gesprach zusammenhing. »Der Grund, weshalb wir Yellowstone anfliegen…«

»Ja?«

»Sajaki glaubt, dort gabe es einen Mann, der Ihnen helfen kann.«

Der Captain uberlegte. Sie hatte auf ihrem Armband eine Karte seines Gehirns: ein Getummel von Farben, als stie?en Soldaten auf einem Schlachtfeld aufeinander. »Der Mann muss Calvin Sylveste sein«, sagte der Captain.

»Calvin Sylveste ist tot.«

»Dann der andere. Dan Sylveste. Ist das der Mann, den Sajaki sucht?«

»Ich wusste nicht, wer es sonst sein konnte.«

»Er wird nicht freiwillig kommen. Genauso wenig wie beim letzten Mal.« Schweigen trat ein; eine Schwankung in der Quantentemperatur hatte den Captain unter die Bewusstseinsschwelle zuruckgesto?en. »Das muss auch Sajaki klar sein«, sagte er, als er wieder zu sich kam.

»Ich bin uberzeugt, dass Sajaki alle Moglichkeiten in Erwagung gezogen hat.« Volyovas Tonfall verriet ganz deutlich, wie wenig sie davon tatsachlich uberzeugt war. Aber sie wurde sich huten, ausdrucklich etwas gegen den anderen Triumvir zu sagen. Sajaki war immer der engste Vertraute des Captains gewesen — als Volyova zur Besatzung gesto?en war, hatten sich die beiden schon seit Ewigkeiten gekannt. Soweit sie wusste, sprach niemand au?er ihr jemals mit dem Captain — auch Sajaki nicht. Die anderen wussten nicht einmal, dass es diese Moglichkeit gab. Aber wozu ein unnotiges Risiko eingehen — auch wenn der Captain ein notorisch schlechtes Gedachtnis hatte.

»Irgendetwas bedruckt Sie, Ilia. Sie konnen sich mir ruhig anvertrauen. Ist es Sylveste?«

»Ein eher hausliches Problem.«

»Also etwas an Bord?«

Volyova wusste, dass sie sich nie ganz an diese Visiten gewohnen wurde, aber in den letzten Wochen hatten sie doch einen Anflug von Normalitat bekommen. Als ware es nur eine unangenehme, aber unvermeidliche Pflicht, einen kryogekuhlten Leichnam zu besuchen, das Opfer einer in ihrer Ausbreitung gebremsten, aber irgendwann alles verzehrenden Seuche; ein Aspekt des Lebens, der keinem Menschen ganz erspart blieb. Doch jetzt trieb sie die Beziehung noch einen Schritt weiter — gleich wurde sie genau das Risiko eingehen, das sie gehindert hatte, ihre Bedenken bezuglich Sajakis zu au?ern.

»Es geht um den Feuerleitstand«, sagte sie. »Sie erinnern sich doch, nicht wahr? Der Raum, von dem aus die Waffen im Geschutzpark gesteuert werden.«

»Ich denke schon, ja. Was ist damit?«

»Ich hatte einen neuen Mann zum Waffenoffizier ausgebildet; er sollte den Kampfsitz einnehmen und uber seine Neuralimplantate mit den Waffen im Geschutzpark in Verbindung treten.«

»Wer war dieser neue Mann?«

»Er hie? Boris Nagorny. Nein; sie kennen ihn nicht — er kam erst vor kurzem an Bord, und ich habe ihn von den anderen so weit wie moglich ferngehalten. Und naturlich konnte ich ihn auch nicht mit hierher bringen.« Die Seuche des Captains hatte schlie?lich auf Nagornys Implantate ubergreifen konnen, wenn sich die beiden zu nahe gekommen waren. Volyova seufzte. Sie naherte sich dem kritischen Punkt ihres Gestandnisses. »Nagorny war immer etwas labil, Captain. Ein Borderline-Psychopath war fur mich in vieler Hinsicht nutzlicher als ein geistig vollig normaler Mensch — jedenfalls dachte ich das damals. Aber ich hatte Nagornys Psychose unterschatzt.«

»Hat sich sein Zustand verschlimmert?«

»Bald nachdem ich ihm die Implantate eingesetzt und ihm erstmals erlaubt hatte, die Verbindung zum Leitstand herzustellen, fing er an, uber Albtraume zu klagen. Schwere Albtraume.«

»Der arme Junge ist zu bedauern.«

Volyova verstand. Verglichen mit dem, was der Captain durchgemacht hatte — und immer noch durchmachte —, mussten ihm die Albtraume der meisten Menschen wie sanfte Phantasmagorien vorkommen. Man konnte daruber streiten, ob er Schmerzen empfand oder nicht, aber was bedeuteten schon Schmerzen, wenn man wusste, dass man bei lebendigem Leibe von etwas unbeschreiblich Fremdartigem aufgefressen — und zugleich verwandelt wurde?

»Ich habe keine Ahnung, wovon die Albtraume handelten«, sagte Volyova. »Ich wei? nur, dass sie fur Nagorny — in dessen Kopf ohnehin schon mehr Gespenster ihr Unwesen trieben, als die meisten von uns verkraftet hatten — zu viel waren.«

»Und was haben Sie dagegen getan?«

»Ich habe alles ausgetauscht — das gesamte Interface-System fur den Leitstand und sogar die Implantate in seinem Kopf. Aber es half nichts. Die Albtraume blieben.«

»Sie sind sicher, dass sie mit dem Leitstand zu tun hatten?«

»Ich wollte es zunachst nicht wahrhaben, aber es gab eine klare Ubereinstimmung zu den Perioden im Kampfsitz.« Sie zundete sich die nachste Zigarette an. Die Glut an der Spitze war das Einzige, was in der Umgebung des Captain Warme verbreitete. Die Entdeckung einer neuen Schachtel Zigaretten war einer der wenigen Glucksmomente in den letzten Wochen gewesen. »Also habe ich das System noch einmal umgestellt, aber auch das half nichts. Es ging ihm hochstens noch schlechter.« Sie hielt inne. »Daraufhin habe ich Sajaki von meinen Problemen erzahlt.«

»Und wie hat Sajaki reagiert?«

»Ich sollte die Experimente zumindest bis zu unserer Ankunft vor Yellowstone unterbrechen. Nagorny sollte ein paar Jahre im Kalteschlaf verbringen, vielleicht wurde ihn das von seiner Psychose heilen. Ich durfte gerne weiter am Leitstand herumbasteln, aber ohne Nagorny noch einmal auf den Sitz zu lassen.«

»Klingt sehr vernunftig. Aber Sie haben den Rat naturlich nicht befolgt.«

Volyova nickte. Es war absurd, aber sie war erleichtert, dass der Captain ihr Verbrechen erraten hatte, ohne dass sie ihm selbst davon erzahlen musste.

»Ich bin ein Jahr vor den anderen aufgewacht«, sagte sie. »Ich wollte die Zeit nutzen, um das System zu uberwachen und mich um Sie zu kummern. Damit war ich einige Monate lang auch beschaftigt. Dann beschloss ich, Nagorny zu wecken.«

»Fur weitere Experimente?«

»Ja. Bis gestern.« Sie zog gierig an ihrer Zigarette.

»Das ist wie beim Zahnarzt, Ilia. Was ist gestern passiert?«

»Nagorny ist verschwunden.« Jetzt war es heraus. »Er hatte einen besonders schlimmen Anfall und ging auf mich los. Ich setzte mich zur Wehr, aber er konnte entkommen. Er muss irgendwo auf dem Schiff sein. Ich habe keine Ahnung, wo.«

Der Captain uberlegte lange. Sie konnte sich vorstellen, was er dachte. Das Schiff war gro?, und es gab

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