Was der Fahrstuhl naturlich nicht tun wurde — es gab ja auch keinen triftigen Grund dafur, au?er, sie zu beschwichtigen. Er hatte nichts anderes zu tun, als auf sie zu warten. Volyova war als einziger Mensch auf dem Schiff wach, folglich hatte niemand au?er ihr eine Veranlassung, die Fahrstuhle zu benutzen.

Vom Mittelschacht bis zum Kalteschlaftank des Captains war ein weiter Weg. Und sie musste einige Umwege nehmen, denn weite Teile des Schiffes waren mit Viren verseucht, die ausgedehnte Funktionsstorungen verursachten, und konnten deshalb nicht betreten werden. Einige Zonen waren mit Kuhlmittel uberflutet, in anderen trieben sich bosartige Pfortnerratten herum. Wieder andere wurden von wild gewordenen Verteidigungsschleppsacken bewacht, denen Volyova lieber aus dem Weg ging, wenn sie nicht gerade Lust auf eine Verfolgungsjagd hatte. Einige Raume waren mit Giftgas gefullt, luftleer oder hochgradig verstrahlt. In manchen sollte es sogar spuken.

Volyova glaubte nicht an Gespenster (abgesehen von den Geistern naturlich, die sie vom Spinnenraum aus horte), aber alles andere nahm sie durchaus ernst. Gewisse Bereiche des Schiffs betrat sie nur bewaffnet. Aber die Umgebung des Captains war ihr soweit vertraut, dass sie keine umfangreicheren Vorsichtsma?nahmen traf. Immerhin war es hier kalt, und so schlug sie den Kragen ihrer Jacke hoch und zog sich die Mutze weiter uber die Ohren. Die Maschen scheuerten an ihren Haarstoppeln. Sie zundete sich eine neue Zigarette an. Nach mehreren tiefen Zugen wich die Leere aus ihrem Kopf und wurde durch eiskalte, militarische Wachsamkeit ersetzt. Sie kam gut allein zurecht und freute sich nur in Ma?en darauf, wieder menschliche Gesellschaft zu bekommen. Vor allem, wenn das bedeutete, dass sie sich mit der Nagorny-Situation auseinandersetzen musste. Vielleicht wurde sie sich doch nach einem neuen Waffenoffizier umsehen, wenn sie das Yellowstone-System erreichten.

Wie war diese Sorge nur durch ihre mentale Abschirmung gedrungen?

Im Augenblick beschaftigte sie doch gar nicht Nagorny, sondern der Captain. Und da war er auch schon, er oder die ersten Auslaufer dessen, was aus ihm geworden war. Volyova nahm sich zusammen. Sie musste Ruhe bewahren. Die bevorstehende Untersuchung verursachte ihr jedes Mal von neuem Ubelkeit. Sie fiel ihr schwerer als den anderen; ihr Abscheu war starker. Sie war brezgati; zimperlich.

Es war ein wahres Wunder, dass Brannigans Kalteschlaftank immer noch funktionierte. Volyova wusste, dass es sich um ein sehr altes — uberaus robustes — Modell handelte. Der Tank war immer noch redlich bemuht, die Korperzellen in Stasis zu halten, obwohl aus breiten, palaolithischen Sprungen in seiner Schale langst faserige Metallwucherungen quollen. Das Gewachs kam aus dem Inneren und breitete sich aus wie ein Pilz. Was immer von Brannigan noch ubrig war, befand sich tief darunter.

In der Nahe des Tanks war es bitter kalt und bald fror Volyova erbarmlich. Aber sie hatte zu tun. Sie zog eine Kurette aus ihrer Jacke und brannte dunne Spane des Gewachses ab, um sie zu analysieren. In ihrem Labor wollte sie verschiedene Viren darauf ansetzen, in der Hoffnung, eine Waffe zu finden, fur die das Gewachs anfallig war. Sie wusste aus Erfahrung, dass die Muhe zum gro?en Teil vergeblich sein wurde — das Gewachs verstand es nur zu gut, alle molekularen Instrumente stumpf zu machen, mit denen sie es attackierte. Immerhin konnte sie sich Zeit lassen: der Tank kuhlte Brannigan auf wenige Hundert Millikelvin uber dem absoluten Nullpunkt herunter, und die Kalte schien die Ausbreitung doch etwas zu bremsen. Andererseits wusste Volyova, dass bisher noch kein Mensch aus diesem Temperaturbereich erfolgreich reanimiert worden war, aber das war beim derzeitigen Zustand des Captains eher zweitrangig.

Sie sprach mit gedampfter Stimme in ihr Armband. »Logbuchdatei uber den Captain offnen und folgenden Zusatz anfugen.«

Das Armband meldete mit leisem Zirpen seine Bereitschaft.

»Dritter Kontrollbesuch bei Captain Brannigan seit meiner Reanimation. Die…«

Sie zogerte. Ein unpassender Ausdruck konnte Triumvir Hegazi verargern — nicht dass sie das sonderlich gestort hatte. Ob sie es wohl wagen durfte, von der ›Schmelzseuche‹ zu sprechen, nachdem die Bewohner von Yellowstone diesen Namen gepragt hatten? Vielleicht war es doch nicht zu empfehlen.

»…Krankheit scheint sich seit dem letzten Eintrag nicht weiter beschleunigt zu haben. Die Fortschritte betragen nur wenige Millimeter. Kryo-Funktionen nach wie vor im grunen Bereich — erstaunlich. Aber wir mussen uns wohl darauf einstellen, dass ein Ausfall des Tanks fruher oder spater unvermeidlich…« Wenn es dazu kam, dachte sie, und es ihnen nicht gelang, den Captain schnell genug in ein neues Gerat zu verlegen (wobei nach wie vor offen war, wie sie das bewerkstelligen wollten), hatten sie auf jeden Fall ein Problem weniger, mit dem sie sich herumschlagen mussten. Auch er ware dann — hoffentlich — aller Sorgen ledig.

Sie befahl dem Armband »Logbuch schlie?en« und fugte hinzu: »Hirnkern des Captains um funfzig Millikelvin erwarmen.« Sie wunschte sich sehnlichst, fur diesen Moment noch einen Glimmstangel aufgespart zu haben.

Sie wusste aus Erfahrung, dass dieser Wert das erforderliche Minimum war. Bei geringerer Temperaturerhohung blieb das Gehirn in eisiger Stasis gefangen. Bei starkerer Erwarmung beschleunigten sich die Transformationen fur ihren Geschmack zu sehr.

»Captain?«, fragte sie. »Konnen Sie mich horen? Ich bin es, Ilia.«

Sylveste stieg aus dem Schlepper und ging zum Gitter zuruck. Wahrend des Gesprachs mit Calvin war der Wind merklich starker geworden. Seine Wangen brannten. Der Staub war so rau wie eine Hexenhand.

»Hoffentlich hat die kleine Unterhaltung ihren Zweck erfullt.« Pascale hatte sich die Maske abgerissen und schrie gegen den Wind an. Sie wusste uber Calvin Bescheid, hatte allerdings noch nie personlich mit ihm gesprochen. »Sind Sie jetzt bereit, Vernunft anzunehmen?«

»Holen sie mir Sluka.«

Normalerweise hatte sie sich gegen einen solchen Befehl verwahrt; jetzt nahm sie Rucksicht auf seine schlechte Laune, ging zum zweiten Schlepper und kam kurz darauf mit Sluka und einigen anderen Arbeitern wieder.

»Wie man mir sagte, wollen Sie uns jetzt anhoren?« Sluka baute sich vor ihm auf, der Wind wehte ihr eine lose Haarstrahne vor die Schutzbrille. In einer Hand hielt sie die Maske, aus der sie immer wieder Luft holte, die andere hatte sie in die Hufte gestemmt. »In diesem Fall werden sie feststellen, dass man mit uns vernunftig reden kann. Ihr guter Ruf liegt uns allen am Herzen. Wenn wir erst wieder in Mantell sind, werden wir uber die Sache kein Wort mehr verlieren. Wir werden sagen, Sie hatten den Abzug sofort befohlen, als die Warnung kam. Dann ist es allein Ihr Verdienst.«

»Und Sie glauben, das spielt auf lange Sicht irgendeine Rolle?«

»Was ist an einem einzigen Obelisken so verdammt wichtig?«, fauchte Sluka. »Was ist an den ganzen Amarantin so verdammt wichtig?«

»Sie haben die gro?eren Zusammenhange nie erkannt, wie?«

Pascale stand etwas abseits, hielt die abnehmbare Kamera ihres Notepads in der Hand und zeichnete diskret — aber nicht so diskret, dass er es nicht bemerkt hatte — die Unterredung auf. »Manche Leute wurden sagen, es gabe gar keine gro?eren Zusammenhange«, sagte Sluka. »Sie hatten die Bedeutung der Amarantin nur ubertrieben, um die Archaologen in Lohn und Brot zu halten.«

»Das ist Ihre Ansicht, Sluka, nicht wahr? Aber Sie waren schlie?lich von Anfang an nicht unbedingt eine von uns.«

»Was soll das hei?en?«

»Das soll hei?en, dass Girardieu keine bessere Wahl hatte treffen konnen, wenn er jemanden von seinen Leuten bei uns hatte einschleusen wollen.«

Sluka drehte sich zu ihren Kollegen um, die Sylveste immer mehr wie eine aufgebrachte Horde erschienen. »Hort euch den armen Teufel an — schon ertrinkt er in Verschworungstheorien. Jetzt kann man sich etwa vorstellen, was der Rest der Kolonie seit Jahren erlebt.« Schon hatte sie ihn wieder im Visier. »Mit Ihnen ist nicht zu reden. Wir fahren ab, sobald die Gerate verstaut sind — und falls der Sturm noch starker wird, schon vorher. Sie konnen mitkommen.« Sie nahm einen Atemzug durch die Maske, ihre Wangen bekamen wieder Farbe. »Aber Sie konnen auch versuchen, hier drau?en zu uberleben. Das liegt ganz bei Ihnen.«

Er wandte sich an die Horde. »Dann geht doch! Fahrt ruhig los! Lasst euch von sentimentalen Gefuhlen wie Loyalitat nicht aufhalten. Oder hat irgendjemand genugend Mumm, um hier zu bleiben und seine Arbeit zu Ende zu bringen?« Er schaute von einem zum anderen, aber alle wandten verlegen den Blick ab. Er kannte die Leute kaum mit Namen, auch die Gesichter waren ihm bis vor kurzem fremd gewesen; jedenfalls war keiner von ihnen mit dem Schiff von Yellowstone gekommen; sie kannten nichts anders als Resurgam mit seiner Hand voll menschlicher Siedlungen, die wie Edelsteine in der trostlosen Landschaft verstreut waren. Er musste ihnen vorkommen wie ein Fossil.

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