Das Problem mit den Toten war, dachte Triumvir Ilia Volyova, dass sie nicht wussten, wann sie den Mund zu halten hatten.
Sie hatte soeben von der Brucke aus den Fahrstuhl bestiegen, nachdem sie sich achtzehn Stunden lang mit verschiedenen Simulationen einstmals lebender Personen aus der fernen Vergangenheit des Schiffes beraten hatte. Nun war sie todmude. Sie hatte mit allen Tricks versucht, einem oder mehreren ihrer Gesprachspartner brauchbare Informationen uber die Herkunft der Weltraumgeschutze zu entlocken. Es war Knochenarbeit gewesen, nicht zuletzt deshalb, weil einige der alteren Beta-Personlichkeiten nicht einmal Neu-Norte sprachen und die Software, auf der sie liefen, sich aus irgendeinem Grund zu keiner Ubersetzung bewegen lie?. Volyova hatte ununterbrochen geraucht, wahrend sie sich mit den grammatikalischen Fallen des Mittel-Norte herumschlug, und sie dachte nicht daran, ihren Lungen jetzt Abstinenz zu verordnen. Nach den aufreibenden Gesprachen war sie vollig verkrampft und brauchte die Zigaretten mehr denn je. Die Klimaanlage des Fahrstuhls funktionierte nicht richtig, und so hatte sie die kleine Kabine schon nach wenigen Sekunden vollkommen eingenebelt.
Volyova schob den Armel ihrer pelzgefutterten Lederjacke zuruck und befahl der
»Wunschen Sie Musik wahrend der Fahrt?«
»Nein. Und ich habe dir schon an die tausend Mal erklart, dass ich nur meine Ruhe haben will. Halt den Mund und lass mich nachdenken!«
Sie fuhr durch das Ruckgrat des Schiffes, einen vier Kilometer langen Schacht, der vom Bug bis zum Heck reichte. Irgendwo am symbolischen oberen Ende war sie eingestiegen (sie kannte nur 1050 Decks) und sank jetzt mit einer Geschwindigkeit von zehn Decks pro Sekunde nach unten. Der Fahrstuhl war ein auf Magnetfeldern schwebender Glaskasten. Die Innenverkleidung des schienenlosen Schachts wurde gelegentlich durchsichtig, so dass sie sich orientieren konnte, ohne auf die Karte im Fahrstuhlinnern sehen zu mussen. Jetzt fuhr sie durch Walder: Terrassengarten mit planetarer Vegetation, die aus Mangel an Pflege verwildert war und bald sterben wurde, weil die meisten der UV-Lampen, die den Wald einst mit Sonnenlicht versorgt hatten, defekt waren und niemand Zeit hatte, sie zu reparieren. Unterhalb der Walder folgten die achthunderter Decks; riesige Schiffszonen fur die Unterbringung der Mannschaft, als die noch in die Tausende ging. Nach Deck 800 fuhr der Fahrstuhl durch den riesigen und zurzeit statischen Anker, der das drehbare Habitat des Schiffs von den nicht drehbaren Versorgungsbereichen trennte, dann sank er durch zweihundert Decks mit Kryogen-Tanks; genugend Kapazitat fur hunderttausend Schlafer — falls welche da gewesen waren.
Volyova befand sich mehr als einen Kilometer unterhalb ihres Ausgangspunkts, aber der Druck blieb konstant, die Lebenserhaltung war eines der wenigen Systeme, die noch so funktionierten, wie sie sollten. Dennoch sagte ihr ein Restinstinkt, dass ihr bei dieser Sinkgeschwindigkeit die Ohren knacken mussten.
»Atriumdecks«, meldete der Fahrstuhl, der auf eine langst uberholte Ausgabe des ursprunglichen Schiffsplans zugegriffen hatte. »Hier finden Sie in Ihrer Freizeit Zerstreuung und Entspannung.«
»Sehr komisch.«
»Wie bitte?«
»Ich meine, du hast schon recht merkwurdige Vorstellungen. Kennst du jemanden, der in seiner Freizeit freiwillig in einen Druckanzug steigt und sich mit Strahlenschutzmedikamenten volldrohnt, bis ihm die Gedarme auslaufen? Ich halte das nicht fur ein reines Vergnugen.«
»Wie bitte?«
»Vergiss es«, seufzte Volyova.
Nun ging es einen Kilometer weit durch Zonen mit vermindertem Druck. Volyova spurte, wie sie leichter wurde, als sie an den Triebwerken vorbeischwebte. Die waren au?en am Rumpf, an eleganten, ruckwarts gepfeilten Tragholmen angebracht, saugten mit weit aufgesperrten Maulern in winzigen Mengen interstellaren Wasserstoff ein und bereiteten ihre Ernte mit irgendwelchen physikalischen Verfahren auf, die vollkommen unverstandlich waren. Niemand, nicht einmal Volyova, behauptete zu wissen,
Volyova hatte jetzt zwei Drittel der Schiffslange zuruckgelegt. Hier unten kannte sie sich besser aus als die ubrige Besatzung: Sajaki, Hegazi und die anderen kamen nur herunter, wenn es einen ganz besonderen Grund dafur gab. Und wer wollte es ihnen verdenken? Je tiefer man sank, desto mehr naherte man sich dem Captain, und sie war die einzige, der diese Vorstellung keine Angst einjagte.
Nein; sie war nicht nur weit entfernt, diesen Teil des Schiffes zu furchten, sie hatte ihn sogar zu ihrem eigenen Reich erkoren. Auf Deck 612 hatte sie aussteigen, den Spinnenraum ansteuern und damit das Schiff verlassen konnen, um den Stimmen der Gespenster zu lauschen, die den Raum zwischen den Sternen unsicher machten. Eine Aussicht, die sie immer wieder verlockend fand. Aber jetzt musste sie arbeiten — sie hatte ein ganz bestimmtes Anliegen — die Geister konnte sie auch ein andermal besuchen. Auf Deck 500 befand sich der Feuerleitstand. Im Vorbeifahren fielen ihr all die Probleme in Zusammenhang damit wieder ein, und sie hatte am liebsten angehalten, um neue Untersuchungen durchzufuhren. Gleich danach sturzte sie durch den Raum mit den Weltraumgeschutzen — eine von mehreren gro?en luftleeren Blasen innerhalb des Schiffes.
Das riesige Gewolbe hatte einen Durchmesser von nahezu einem halben Kilometer, aber jetzt war alles dunkel, und Volyova musste sich die vierzig Objekte, die es enthielt, in ihrer Phantasie vorstellen. Das fiel ihr nicht schwer. Zwar gab es viele offene Fragen, was die Funktion und die Herkunft dieser Waffensysteme anging, aber ihre Form und ihre Standorte kannte sie so genau wie ein Blinder die mit Bedacht aufgestellten Mobel seines Schlafzimmers. Am liebsten hatte sie die Hand aus dem Fahrstuhl gestreckt und den Metallrahmen des nachsten Kolosses gestreichelt, nur um sich zu vergewissern, dass er noch da war. Seit sie zum Triumvirat gesto?en war, hatte sie sich bemuht, moglichst viel uber die Geschutze in Erfahrung zu bringen, aber sie hatte nicht behaupten konnen, sich in ihrer Nahe wohl zu fuhlen. Sie ging ebenso nervos an sie heran wie an eine neue Liebe, wusste sie doch, dass alle bisher gesammelten Informationen nur oberflachlicher Natur waren, und dass alles, was unter dieser Oberflache lag, jede Illusion zerstoren konnte.
Sie bedauerte es nicht allzu sehr, den Geschutzpark wieder zu verlassen.
Auf Deck 450 schoss sie wieder an einem Anker vorbei, diesmal trennte er den Versorgungsbereich vom sich konisch verjungenden Leitwerk des Schiffes, das sich noch einen weiteren Kilometer nach unten erstreckte. Der Fahrstuhl beschleunigte abermals in einem Strahlungsgurtel, dann leitete er die lange Bremsphase ein, um schlie?lich zum Stehen zu kommen. Dabei durchfuhr er die zweite Serie von Kryo-Decks, zweihundertfunfzig Etagen, die ein-hundertzwanzigtausend Schlafer aufnehmen konnten. Derzeit gab es naturlich nur einen einzigen, falls man so gro?zugig sein wollte, den Zustand des Captains als Schlaf zu bezeichnen. Der Fahrstuhl wurde jetzt langsamer. Auf halbem Weg durch die Kryo-Decks hielt er an und verkundete freundlich, er habe das angegebene Ziel erreicht.
»Kryo-Schlafdeck fur Passagiere, Pforte«, meldete der Fahrstuhl. »Hier bekommen Sie alles, was Sie im Kalteschlaf brauchen. Wir bedanken uns, dass Sie unseren Service in Anspruch genommen haben.«
Die Tur ging auf, Volyova trat uber die Schwelle und schaute durch den schmalen Spalt hinab auf die immer enger werdenden, hell erleuchteten Schachtwande. Sie hatte fast die gesamte Lange (oder Hohe — es fiel schwer, sich das Schiff nicht als unglaublich hohes Gebaude vorzustellen) durchfahren, und dennoch war nach unten noch kein Ende des Schachtes abzusehen. Das Schiff war so gro? — so unsinnig gro? —, dass der Verstand nicht einmal seine Grenzen zu erfassen vermochte.
»Ja, schon gut. Und jetzt tu mir den Gefallen und hau ab!«
»Wie bitte?«
»Fahr weiter!«