die Grabung musse aufgegeben werden.«

»Warum, in aller Welt, sollte ich eine Grabung aufgeben?«

»Wegen des Sturms, Sir.«

»Zum Teufel mit dem Sturm.« Er wollte sich schon abwenden, doch Pascale packte mit etwas zu festem Griff seinen Arm.

»Ihre Besorgnis ist berechtigt, Dan.« Sie sprach so leise, dass nur er sie verstehen konnte. »Ich habe die Warnung auch gehort. Wir sollten nach Mantell zuruckfahren.«

»Dann geht hier alles verloren!«

»Wir kommen zuruck.«

»Selbst wenn wir einen Transponder versenken, finden wir die Stelle womoglich nie wieder.« Er wusste, dass er im Recht war: die Grabung war nicht gesichert, und die Karten fur diese Gegend waren nicht sonderlich genau; man hatte sie in aller Eile zusammengestellt, als die Lorean vor vierzig Jahren von Yellowstone kommend in die Umlaufbahn gegangen war. Seit bei der Meuterei zwanzig Jahre spater — als sich die Halfte der Kolonisten zusammenrottete, um das Schiff in ihre Gewalt zu bringen und damit nach Hause zu fliegen — der Satellitengurtel zerstort worden war, gab es keine Moglichkeit mehr, auf Resurgam exakte geografische Positionsbestimmungen vorzunehmen. Und in einem Schmirgelsturm hatte schon so mancher Transponder versagt.

»Trotz allem lohnt es sich nicht, fur eine Ausgrabung Menschenleben aufs Spiel zu setzen«, sagte Pascale.

»Fur diese Ausgrabung lohnt sich vielleicht noch viel mehr.« Er schnippte mit den Fingern. »Schneller«, rief er den Studenten zu. »Nehmt notfalls den Servomaten. Bis morgen fruh will ich die Oberseite dieses Obelisken sehen.«

Sluka, seine dienstalteste Studentin, murmelte etwas vor sich hin.

»Wollten Sie noch etwas sagen?«, fragte Sylveste.

Sluka stand auf — wahrscheinlich zum ersten Mal seit mehreren Stunden. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die kleine Spachtel, mit der sie gearbeitet hatte, fiel zu Boden und blieb neben ihren Fu?en liegen, die in Eskimoschuhen, so genannten Mukluks steckten. Sie riss sich die Maske vom Gesicht und atmete fur ein paar Sekunden Resurgam-Luft. »Wir mussen miteinander reden«, sagte sie.

»Woruber, Sluka?«

Sluka nahm ein paar Atemzuge durch die Maske, dann fuhr sie fort. »Sie wollen das Gluck erzwingen, Dr. Sylveste.«

»Sie haben das Ihre soeben verspielt.«

Sie uberhorte die Bemerkung. »Ihre Arbeit bedeutet uns viel, und das wissen Sie. Wir teilen Ihre Uberzeugungen. Deshalb sind wir hier und rackern uns fur Sie ab. Aber Sie sollten das nicht fur selbstverstandlich halten.« Sie streifte Pascale mit funkelndem Blick. »Im Moment brauchen Sie alle Verbundeten, die Sie nur finden konnen, Dr. Sylveste.«

»Soll das eine Drohung sein?«

»Nur eine Feststellung. Wenn Sie sich mehr darum kummern wurden, was in der Kolonie vorgeht, dann wussten Sie, dass Girardieu es schon seit langem auf Sie abgesehen hat. Und wie man hort, will er sehr viel fruher zuschlagen, als Sie denken.«

Er spurte ein Kribbeln im Nacken. »Wovon reden Sie da?«

»Von einem Umsturz, was sonst?« Sluka drangte sich an ihm vorbei zur Seitenwand und setzte den Fu? auf die unterste Sprosse der Leiter. Dann drehte sie sich noch einmal um und wandte sich an die beiden anderen Studenten, die sich tief uber ihre Arbeit beugten und offenbar nichts anderes im Sinn hatten, als den Obelisken freizulegen. »Macht ruhig weiter, so lange ihr wollt, aber sagt hinterher nicht, ich hatte euch nicht gewarnt. Wenn ihr nicht wisst, was es hei?t, in einen Schmirgelsturm zu geraten, dann braucht ihr euch nur Sylveste anzusehen.«

Einer der Studenten schaute auf und fragte schuchtern: »Wo gehst du hin, Sluka?«

»Ich will mit den anderen Teams reden. Vielleicht haben noch nicht alle die Sturmwarnung gehort. Ich glaube nicht, dass viele um jeden Preis hier bleiben wollen, wenn sie erst Bescheid wissen.«

Sie machte sich an den Aufstieg, aber Sylveste hielt sie an der Ferse eines Mukluk fest. Sluka schaute auf ihn nieder. Sie hatte die Maske wieder angelegt, aber Sylveste sah die Verachtung in ihrem Blick. »Sie sind erledigt, Sluka.«

»Nein«, sagte sie und kletterte weiter. »Ich fange gerade erst an. An Ihrer Stelle wurde ich mir um mich selbst Sorgen machen.«

Sylveste horchte in sich hinein und stellte fest, dass er vollkommen ruhig war. Damit hatte er ganz und gar nicht gerechnet. Aber es war die Ruhe uber den metallisch glanzenden Wasserstoffmeeren der Gasriesen in gro?erer Entfernung von Pavonis — eine Ruhe, die nur durch morderischen Druck von oben und unten aufrechterhalten wurde.

»Nun?«, fragte Pascale.

»Ich muss mit jemandem reden«, sagte Sylveste.

Sylveste stieg die Rampe zu seinem Schlepper hinauf. Die andere Maschine war vollgepfropft mit Regalen und Probenbehaltern. Dazwischen hingen in schmalen Nischen die Hangematten der Studenten. Sie mussten in den Fahrzeugen schlafen, weil die Grabung — wie einige andere im Bezirk — mehr als eine Tagereise weit von Mantell entfernt war. Sylvestes Schlepper war um einiges komfortabler ausgestattet. Sein Schlaf- und Wohnbereich nahm mehr als ein Drittel des Innenraums ein. Der Rest wurde als zusatzlicher Frachtraum genutzt, au?erdem waren zwei bescheidene Kabinen fur hoherrangige Mitarbeiter und fur Gaste vorhanden. Hier schliefen sonst Sluka und Pascale. Im Augenblick hatte er jedoch den ganzen Raum fur sich allein.

Die feudale Einrichtung der Kabine tauschte daruber hinweg, dass man sich in einem Schlepper befand. Alles war mit rotem Samt ausgeschlagen, auf den Regalen standen Reproduktionen wissenschaftlicher Instrumente und archaologischer Funde. Gro?e, kunstvoll beschriftete Mercator-Karten von Resurgam, auf denen alle gro?eren Amarantin-Fundstatten verzeichnet waren, zierten die Wande; andere Flachen waren mit Texten bedeckt, die sich langsam aktualisierten: hier entstanden wissenschaftliche Aufsatze. Mittlerweile erledigte Sylvestes Beta-Sim die meisten Routinearbeiten selbstandig; er hatte die Simulation so ausgebildet, dass sie seinen personlichen Stil zuverlassiger imitierte, als er selbst bei den momentanen Ablenkungen dazu imstande gewesen ware. Sobald er Zeit dazu fand, musste er wohl oder ubel Korrektur lesen, doch jetzt gonnte er den Texten nur einen fluchtigen Blick, dann trat er an seinen Schreibsekretar. Der pompose Aufsatz aus Marmor und Malachit war mit japanischen Lackintarsien geschmuckt, die Szenen aus der Fruhzeit der Raumfahrt zeigten.

Sylveste zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Simulationskassette, eine unbeschriftete graue Tafel, die aussah wie eine Keramikfliese. In der Platte des Schreibpults befand sich ein Schlitz. Er brauchte die Kassette nur einzufuhren, um Calvin erstehen zu lassen. Trotzdem zogerte er. Seit er Calvin zum letzten Mal von den Toten auferweckt hatte, war viel Zeit vergangen — auf jeden Fall mehrere Monate. Aber jene Begegnung hatte einen so katastrophalen Verlauf genommen, dass er sich geschworen hatte, Calvin nur noch in einer schweren Krise zu rufen. Jetzt galt es zu entscheiden, ob es tatsachlich eine Krise gab — und ob sie beunruhigend genug war, um Calvins Auferstehung zu rechtfertigen. Die Schwierigkeit war, dass seine Ratschlage nur etwa zur Halfte serios waren.

Sylveste druckte die Kassette in den Schlitz.

Feen erschienen in der Mitte des Raums und woben eine Lichtgestalt: Calvin in einem riesigen Thronsessel. Die Erscheinung war realistischer als jedes Hologramm — selbst feinste Schattierungen waren zu erkennen —, denn sie wurde durch direkte Einwirkung auf Sylvestes Sehzentrum erzeugt. Die Beta-Simulation stellte Calvin so dar, wie ihn die Offentlichkeit am besten in Erinnerung hatte: mit knapp funfzig Jahren zu seiner Glanzzeit auf Yellowstone. Seltsamerweise sah Calvins Abbild alter aus als Sylveste, obwohl es biologisch gesehen siebzig Jahre junger war. Sylveste befand sich im achten Jahr seines dritten Lebensjahrhunderts, aber die Langlebigkeitsbehandlungen, die er auf Yellowstone erhalten hatte, waren deutlich besser gewesen als zu Calvins Zeit.

Ansonsten hatten sie die gleichen Gesichtszuge und den gleichen Korperbau. Beide zogen standig ironisch die Mundwinkel nach unten. Sylveste bevorzugte auf Expeditionen eher schlichte Kleidung. Calvin trug das Haar kurzer und hatte sich in Schale geworfen, wie es in der Belle Epoque der Demarchie Mode war: ein weites

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