»Noch immer nicht, mein lieber Inspektor«, lachelte Poirot. »Und wem verdanken wir Ihren fruhen Besuch?«
»Fruh? Fur mich ist es nicht mehr fruh. Schon reichlich zwei Stunden arbeite ich. Was mich zu Ihnen bringt? Nun - Mord.«
»Mord?« Japp nickte.
»Vergangene Nacht wurde Lord Edgware in seinem Haus in Regent Gate ermordet. Erdolcht durch die Hand seiner Gattin.«
»Seiner Gattin?« schrie ich.
Blitzschnell entsann ich mich der Worte Martin Bryans. Hatte sie ihm eine prophetische Ahnung eingegeben? Auch Janes leichtfertige Au?erung von dem Niederknallenlassen fiel mir ein. Den Ausdruck amoralisch hatte Bryan fur sie gepragt. Und tatsachlich war sie von diesem Schlag. Hartherzig, egoistisch und beschrankt. Wie zutreffend sein Urteil gewesen war!
All dies scho? durch mein Hirn, wahrend Japp fortfuhr:
»Ja, die eigene Gattin. Schauspielerin: die bekannte Jane Wilkinson. Vor drei Jahren hat sie ihn geheiratet und verlie? ihn, weil sie sich nicht vertrugen.« Poirot ruhrte ernst in seiner Tasse.
»Was veranla?te Sie, Jane Wilkinson fur die Taterin zu halten?«
»Nichts von halten, mein Verehrter. Sie wurde gesehen und erkannt. Mit viel Winkelzugen hat sie sich au?erdem nicht abgegeben; sie fuhr in einem Taxi vor ...«
»Einem Taxi«, wiederholte ich unwillkurlich, da ihr Ausspruch an jenem Abend im Savoy in meiner Erinnerung aufstieg.
»... lautete und fragte nach Lord Edgware«, berichtete Japp, ohne sich an meine Unterbrechung zu kehren. »Der Butler erwiderte ihr, da? er sehen wolle, ob sein Herr abends um zehn Uhr noch Besuch empfangen wolle. >Oh, das brauchen Sie nicht. <, wehrte sie ihm kaltblutig. >Ich bin Lady Edgware. Vermutlich finde ich ihn in der Bibliothek.< Und damit geht sie an dem Mann vorbei, offnet die Tur und schlie?t sie hinter sich.
Der Butler, dem ihr Verhalten wohl etwas eigenartig, aber nicht verdachtig vorkam, begab sich wieder ins Souterrain, von wo er zehn Minuten spater die Haustur ins Schlo? fallen horte. Lange war sie also nicht geblieben. Als er vor dem Schlafengehen um elf Uhr seine gewohnliche Runde durchs Haus machte und sich noch nach etwaigen Wunschen seines Herrn erkundigen wollte, lag die Bibliothek in tiefster Finsternis da, so da? er annahm, Lord Edgware habe sich bereits zur Ruhe begeben. Erst heute morgen entdeckte ein Hausmadchen die Leiche ... in den Nacken gestochen, genau beim Haaransatz.«
»Und hat man keinen Schrei gehort? Nichts?«
»Die Hausbewohner behaupten einmutig, nein. Sie mussen wissen, Monsieur Poirot, da? die Bibliothek sehr dicke, schallsichere Turen besitzt, und au?erdem fuhrt solch ein Stich in den Nacken den Tod erstaunlich schnell herbei. Quer durch die Wirbelsaule ins Ruckenmark hinein - so sagte der Arzt. Wenn sie die rechte Stelle treffen, wirkt der Stich augenblicklich.«
»Das setzt aber beinahe fachmannische Kenntnisse auf dem Gebiet der Anatomie voraus.«
»Ja, das allerdings. Ein Punkt, der zu ihren Gunsten spricht. Doch zehn zu eins wette ich, da? ein glucklicher Zufall ihre Hand fuhrte. Es gibt eben Leute, denen immer das Gluck lachelt.«
»Ein merkwurdiges Gluck, das den Strick des Henkers im Gefolge hat!« bemerkte Poirot trocken.
»Vermutlich beabsichtigte sie anfanglich nichts Boses. Dann durfte es zu einem Streit gekommen sein, in dessen Verlauf sie ein Federmesser aus der Tasche ri? und zustie?.«
»Ist es ein Federmesser gewesen?«
»Zum mindesten etwas Ahnliches, erklarten die Arzte. Genau wissen wir es nicht, da sie das Mordinstrument nicht in der Wunde steckenlie?, sondern mit sich fortnahm.«
»Nein, nein, lieber Inspektor, Ihre Rechnung stimmt nicht.« Poirot schuttelte verdrie?lich den Kopf. »Ich kenne die Dame. Einer solchen hei?blutigen, jahen Handlung ist sie nicht fahig, ganz abgesehen davon, da? Frauen keine Federmesser in ihren Taschen bei sich zu tragen pflegen. Und wenn es einige wenige geben sollte, so gehort Jane Wilkinson bestimmt nicht zu ihnen.«
»Sie kennen sie personlich?«
»Ja.« Zu naheren Erklarungen lie? sich Poirot nicht herbei, obwohl ihn Inspektor Japp neugierig ansah. Ach, ich wu?te aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie sehr mein Freund es liebte, einen auf die Folter zu spannen!
»Da haben Sie also einen sehr hubsch abgerundeten Mordfall, lieber Japp«, bemerkte er gleichmutig, »und vor allem auch schon den Verbrecher. Welches ist ubrigens der Beweggrund zu der Tat?«
»Lady Edgware wollte einen anderen Mann heiraten. Sie hat das vor einer Woche in Gegenwart von Zeugen gesagt und hinzugefugt, da? sie ein Taxi nehmen und Lord Edgware mit eigener Hand ins Jenseits befordern wurde, falls er ihr Schwierigkeiten machte.«
»Bravo, Inspektor!« lobte Poirot. »Sie sind vortrefflich unterrichtet. Irgend jemand hat sich Ihnen sehr gefallig erwiesen!«
»Nun, wir horen so mancherlei, Monsieur Poirot.«
Mein Freund nickte. Er streckte die Hand nach der Morgenzeitung aus, die Japp, wahrend er auf uns wartete, entfaltet und dann ungeduldig weggelegt hatte. Mechanisch kniffte Poirot sie wieder zusammen, strich und glattete sie. Obgleich seine Augen auf den Druckzeilen ruhten, schien sein Hirn von anderen Gedanken in Anspruch genommen zu sein.
»Wenn alles so schon in Ol schwimmt, warum kommen Sie da zu mir?« fragte er, plotzlich aufblickend.
»Weil ich erfuhr, da? Sie gestern vormittag in Regent Gate gewesen sind. Und gleich spitzte ich die Ohren. Wie, Lord Edgware bemuhte Monsieur Poirot zu sich? Weshalb? Was argwohnte, was furchtete er . ? Und bevor ich einen endgultigen Schritt tue, mochte ich eine Rucksprache mit Ihnen haben.«
»Was bedeutet endgultiger Schritt? Die Verhaftung von Lady Edgware, vermutlich.«
»Richtig.«
»Bis jetzt haben Sie sie noch nicht gesehen?«
»O doch. Mein erster Weg fuhrte mich zum Savoy. Hatte keine Lust, da? sie mir durch die Finger schlupfte.«
»Ah ... Und was sagte sie?« erkundigte sich Poirot mit merklichem Interesse. »Eh, mon cher, was sagte sie?«
»Bekam hysterische Anfalle. Schlug um sich und fiel schlie?lich auf den Teppich. Bums . ! Ja, sie schauspielerte prachtig - das mu? ihr der Neid lassen.«
»Schauspielerte?« wiederholte Poirot mit Sanftmut.
»Na, was denn sonst?« klang es ziemlich formlos zuruck. »Aber ich falle auf solche Matzchen nicht herein, Monsieur Poirot. Ohnmachtig! Ich sage Ihnen, sie war ebensowenig ohnmachtig wie ich; doch sie tauschte eine Ohnmacht vor, und ich will es auf meinen Eid nehmen, da? sie sich innerlich an ihrem eigenen Spiel berauschte.«
»Ja, das letztere ist allerdings sehr leicht moglich«, meinte Hercule Poirot nachdenklich. »Was weiter!«
»Das Bewu?tsein kehrte dann langsam zuruck - angeblich, wohlverstanden. Und nun stohnte sie und stohnte. Ach Gott, ach Gott, wie jammerlich sie stohnte! Und jene sauertopfische altliche Maid trankte sie mit Riechsalzen ...! Schlie?lich hatte sie sich genug erholt, um nach ihrem Anwalt zu verlangen. Kein Wort wurde sie mir antworten, es sei denn in seinem Beisein. Hysterischer Anfall in dem einen Augenblick und der Rechtsanwalt im nachsten - nun frage ich Sie, Monsieur Poirot, ist das ein naturliches Benehmen?«
»In diesem Fall mochte ich es bejahen.«
»Sie meinen, weil sie schuldig ist und es wei?.«
»Keineswegs. Ich meine wegen ihres Temperaments. Zuerst legt sie Ihnen ihre Auffassung dar, wie die Rolle einer Frau, die jah den Tod ihres Gatten erfahrt, gespielt werden sollte. Hierauf aber, nachdem ihre schauspielerischen Instinkte befriedigt worden sind, meldet sich ihre angeborene Schlauheit und la?t sie nach einem Anwalt verlangen. Da? sie eine kunstliche Szene arrangiert und ihre Freude daran hat, ist kein Beweis fur ihre Schuld. Es kann auch nur das eine erhellen: da? sie eine geborene Schauspielerin ist.«
»Doch sie kann nicht unschuldig sein. Das steht fest.«
»Sie sprechen sehr uberzeugt, und es liegt mir fern, Sie von Ihrer Meinung abbringen zu wollen«, sagte Poirot. »Zu einer Aussage lie? sie sich also nicht herbei?«
»Keine Silbe ohne Anwesenheit ihres Anwalts ...! Die betagte Maid beschied ihn dann telefonisch zum Savoy. Ich lie? zwei meiner Leute dort und machte mich selbst auf die Beine zu Ihnen, um vielleicht einige