Wissen Sie, wer der betreffende Mann ist?« bohrte der unerbittliche Frager weiter.
»Ja. Der Herzog von Merton.«
»Sieh da, der Herzog von Merton!« Scotland Yards Beamter stie? einen kleinen Pfiff aus. »Hatte hochfliegende Plane, die Dame. Der Herzog gilt als einer der reichsten Manner Englands.«
Bryan nickte, niedergeschlagener als je.
Mehr und mehr wurde mir Poirots Haltung unverstandlich. Er lag weit zuruckgelehnt in seinem bequemen Sessel, die Fingerspitzen gegeneinandergepre?t, und die rhythmische Bewegung seines Kopfes erinnerte an den restlosen Beifall eines Menschen, der eine Grammophonplatte ausgewahlt hat und jetzt ihren Klang genie?t.
»Wollte ihr Gatte sie nicht freigeben?«
»Er weigerte sich hartnackig.«
»Ist das eine unumsto?liche Tatsache?«
»Ja.«
»Und nun«, sagte Poirot, das Wort plotzlich wieder an sich rei?end, »horen Sie, wie ich in die Angelegenheit hineingezogen wurde, mein guter Japp. Lady Edgware bat mich, ihren Gatten aufzusuchen und zu einer Scheidung zu uberreden. Ich hatte mit Lord Edgware fur heute Vormittag eine Unterredung vereinbart.«
»Das ware vergebliche Muhe gewesen«, warf Martin Bryan ein. »Nie wurde er eingewilligt haben.«
»Meinen Sie?« fragte Poirot, ihn mit einem freundschaftlichen Blick umfassend.
»Nie!« wiederholte der andere. »Jane selbst glaubte auch nicht recht an den Erfolg Ihrer Bemuhungen. Sie hatte die Hoffnung bereits aufgegeben. Der Mann war ja in bezug auf Scheidung von fixen Ideen besessen.«
Poirot lachelte, und seine Augen nahmen plotzlich eine schillernde grunliche Farbung an.
»Falsch, mein lieber junger Herr«, sagte er mit unverminderter Freundlichkeit. »Ich habe gestern mit Lord Edgware gesprochen, und er setzte der Scheidung keinen Widerspruch entgegen.«
»Sie ... Sie sahen ihn ... gestern?« stotterte Martin Bryan, wie vor den Kopf geschlagen.
»Gestern, um ein Viertel nach zwolf«, erklarte Poirot in seiner kleinlich genauen Art.
»Und er willigte in die Scheidung?«
»Ja. Er willigte in die Scheidung.«
»Das hatten Sie doch Jane umgehend mitteilen mussen!« schrie der junge Mann in bitterem Vorwurf.
»Ist geschehen.«
»Wie?« Einstimmig riefen es Martin Bryan und Japp.
»Nicht wahr, das schwacht den angeblichen Beweggrund zur Tat ein wenig?« lachelte mein Freund. »Und nun, Mr. Bryan, haben Sie die Gute, diese paar Zeilen zu lesen.«
Er zeigte ihm die betreffende Stelle, die Martin ohne sonderliches Interesse uberflog.
»Meinen Sie, das sei ein Alibi, Monsieur Poirot? Ich vermute, da? Lord Edgware irgendwann gestern abend erschossen wurde, nicht?«
»Erdolcht, nicht erschossen.«
Bryan lie? das Blatt langsam sinken.
»Jane ging namlich nicht zu jenem Dinner.«
»Woher wissen Sie das?«
»Irgendwer hat es mir erzahlt.«
»Das ist schade!«
»Bei Gott, jetzt konnte man wieder meinen, Sie wunschen die Frau nicht uberfuhrt zu sehen, Monsieur Poirot!« rief der Inspektor erregt.
»Friedlich, friedlich, mein guter Japp. Ich bin nicht der Parteiganger, fur den Sie mich halten. Aber rundheraus: gegen Ihre Darstellung des Falles emport sich der Verstand.«
»Emport sich der Verstand? Der meinige emport sich nicht.«
Schon sah ich gefahrliche Worte auf Poirots Lippen zittern, aber er schluckte sie hinunter. Und ruhig und sachlich fuhrt er aus: »Da haben wir eine junge Frau, die - wie Sie sagen - ihren Gatten loszuwerden wunscht. Diesen Punkt bestreite ich um so weniger, als sie selbst es mir frank und frei eingestand. Eh bien, wie geht sie nun zu Werk ... ? Sie wiederholt vor Zeugen verschiedene Male laut und vernehmlich, da? sie ihn zu toten gedenkt. Hierauf macht sie sich eines Abends auf den Weg nach seinem Haus, nennt dort ihren Namen, ersticht ihn und geht von dannen. Wie bezeichnen Sie das Ganze, mein Freund?«
»Nun, ein bi?chen toricht war es ja.«
»Sagen Sie lieber, es ist heillose Dummheit.«
»Meinetwegen«, gab Japp zu, indem er sich erhob. »Die Polizei hat den Vorteil davon, wenn Verbrecher Dummheiten begehen. Jetzt mu? ich aber zuruck zum Savoy.«
»Gestatten Sie, da? ich Sie begleite?«
Japp straubte sich nicht, und gemeinsam brachen wir auf. Unten an der Haustur trennte sich Martin Bryan von uns - wenn auch widerwillig. Nervos und instandig bat er, da? wir ihn uber die weitere Entwicklung auf dem laufenden hielten.
»Das reinste Nervenbundel!« meinte Japp, als er ihm nachsah; und Poirot schien gleicher Meinung zu sein.
Am Portal des Savoy trafen wir mit einem sehr juristisch aussehenden Herrn zusammen, der nach Janes Appartement fragte und denselben Fahrstuhl wie wir benutzte.
»Na?« erkundigte sich Japp kurz bei einem seiner Leute.
»Sie wunschte zu telefonieren.«
»Und mit wem sprach sie?«
»Modesalon Jay. Wegen Trauerkleidung.«
»Der Teufel hole die Weiber!« knurrte der Inspektor halblaut. Und dann betraten wir den Wohnsalon.
Die verwitwete Lady Edgware probierte vor einem gro?en Spiegel Hute und trug ein flie?endes, wei? und schwarzes Gebilde der Schneiderkunst.
»Oh, Monsieur Poirot, wie lieb von Ihnen, mich aufzusuchen«, begru?te sie meinen Freund mit ihrem betorenden Lacheln. »Mr. Mexon«, - dies galt dem Rechtsanwalt -, »ich bin sehr froh, da? Sie da sind. Kommen Sie! Nehmen Sie hier dicht neben mir Platz und sagen Sie mir, welche Fragen ich zu beantworten habe. Jener Mann dort scheint zu glauben, ich sei ausgegangen und hatte George heute morgen getotet.«
»Gestern abend, Madame«, verbesserte Japp. »Gestern abend um zehn Uhr.«
»Ach, gestern abend um zehn?« Janes blaue Augen offneten sich weit. »Ich dachte, heute morgen.«
»Das ware nicht gut moglich, weil es jetzt erst elf Minuten nach zehn ist.«
»Elf Minuten nach zehn? Seit Jahren bin ich nicht so zeitig aufgestanden. Dann mussen Sie ja bei Morgengrauen zum erstenmal bei mir vorgesprochen haben, Inspektor. Was aber den gestrigen Abend anbelangt, so befand ich mich auf einer Gesellschaft. Oh ...!« Sie legte in jahem Erschrecken die gepflegte Hand auf den Mund. »Vielleicht hatte ich das nicht sagen sollen.«
Schuchtern suchten ihre Augen den Anwalt.
»Wenn Sie um zehn Uhr gestern abend auf einer Gesellschaft waren, so sehe ich keinerlei Grund, diese Tatsache dem Inspektor zu verheimlichen, Lady Edgware«, beruhigte sie dieser. »Wirklich keinerlei Grund.«
»Nein . ? Dann darf ich wohl auch sagen, da? ich bei Sir Montague Corner war. Ach, Mr. Mexon, Sie ahnen nicht, wie mich dieses rauhe Eindringen der Polizei hier mitgenommen hat! Ich habe einen tiefen Ohnmachtsanfall gehabt.«
»Um wieviel Uhr gingen Sie gestern abend von hier fort, Lady Edgware?« setzte Japp ihren Klagen ein Ende.
»Gegen acht.« Jetzt schien Jane Wilkinson die Scheu vor einer Aussage uberwunden zu haben, denn ohne weiteres fugte sie hinzu: »Ich sprach dann ein paar Minuten im Piccadilly vor, um einer amerikanischen Freundin, die nach New York zuruckfahrt, gluckliche Reise zu wunschen. Mrs. van Dusen hei?t sie ubrigens. Bei Sir Montague werde ich um ein Viertel vor neun eingetroffen sein.«
»Und wann brachen Sie dort wieder auf?«
»Gegen halb zwolf.«
»Sie kehrten ohne Umwege nach hier zuruck?«
»Ja.«
»In einem Taxi?«
»Nein. In meinem eigenen Wagen. Ich mietete ihn von der Daimler-Gesellschaft.«