Enttauschung verwirrt, als hatte sie eine Luge von ihm erwartet, die ihren Verrat entschuldigt hatte. Oder war da noch etwas anderes? Er dachte an Wadie Abdhiamal.
„Aber was wird mit der Besatzung? Wenn Sie… das Schiff intakt in die Hand bekommen?“
„Wenn ich sie lebend bekomme?“
Flame Siva erstarrte, ihre Augen erinnerten an niedergebrannte Schlacke, ihre Stimme verlor ihre Starke. „Ja… naturlich liegt sie mir am Herzen…“ Und dann, plotzlich wild und aufbrausend: „Sie liegen mir alle am Herzen! Sie versuchen uns zu retten!“ Sie bi? sich auf die Lippen.
Raul wand sich unbehaglich. „Wenn sie keinen Widerstand leisten, werde ich Ihre Tochter und den anderen freilassen — wenn Ihnen daran soviel gelegen ist.“
„Sie werden sie niemals gehen lassen.“ Es war keine Frage.
„Ich glaube weder unsere Flotte noch die Besatzung wird jemals in einer Position sein, daruber verhandeln zu konnen.“
Sie nickte oder schuttelte den Kopf, eine seltsame Bewegung. „Wir tun hier, was wir konnen… und wir nehmen, was wir bekommen. Wir sind fur unsere Taten selbst verantwortlich.“ Wieder der Trotz, der Abscheu, das lohende Feuer… sie wandte sich an die geisterhafte Inkarnation des Rates von Lansing. „Wir nehmen die Konsequenzen auf uns.“
„Sandoval.“ Raul winkte ihn zu sich. „Bringen Sie sie zuruck und lassen Sie sie am Funkgerat arbeiten. Und was immer auch geschieht, lassen Sie sie kein Wort — ich wiederhole,
„Ja, Sir.“ Sandoval salutierte nachlassig und brachte sie weg. Sie wurde von seinen Mannern flankiert, hatte aber den Kopf hoch erhoben.
Raul kommandierte zwei weitere Manner zum Bewachen der Luftschleuse ab, einen behielt er bei sich. Der Premierminister und seine Abgeordneten warteten, sich bewu?t — wie auch er sich bewu?t war —, da? es ihnen an der notigen Konsequenz und Kontrolle fehlte.
Der Premierminister wandte sich an Wind Kitavu, seine Robe offnete sich wie eine Blute. „Du. Was machst du hier unten?“
„Sie wissen, was ich getan habe!“ Wind Kitavu sprang weg von der Wand. „Das Kind. Ihr alle wi?t es. Tut nicht so, als ob es anders ware!“
Der Premierminister wich zuruck, eine wurdelose Bewegung. „Dann erwarte nichts weiter von uns! Du wu?test, was geschehen wurde. Akzeptiere deine eigenen Fehler… geh wieder an deine Arbeit.“ Er streckte einen Arm aus.
Raul sah Schmutz, der verkrustet den ganzen Unterarm bedeckte, als der Armel zuruckglitt. Er horte einen seiner Manner, der es ebenfalls gesehen hatte, laut lachen, doch dieses Mal unternahm er keinen Versuch, ihn zum Schweigen zu bringen. Er wandte sich ab. „Wind Kitavu.“
Wind Kitavu verharrte auf halbem Weg zur Tur.
„Gehst du zur Oberflache?“
Ein ausdrucksloses Nicken. „Mu? es meiner Frau erzahlen. Von dem Baby.“
„Dann werden wir dir folgen. Ich mochte diese verdammten Garten sehen.“
„Verdammten Garten…“ wiederholte eine andere Stimme. Wind Kitavu ging zum Ausgang. Raul wandte sich nicht noch einmal dem Premierminister von ganz Himmels Gurtel zu.
Raul folgte seinem wortkargen Fuhrer durch viele Tunnels, dieses Mal in eine Aufwartsrichtung. Schlie?lich wurde ein kleines Lichtfleckchen vor ihm immer heller und gro?er — eine Helligkeit, die so intensiv war, da? sie nur von der Sonne stammen konnte. Dieses Mal begegnete er einem Tag, der fur die menschliche Rasse seit ihrem Bestehen naturlich war, fur ihn jedoch vollkommen neu und unerwartet. Frei, ungehindert, konnte er ins Tageslicht hinaustreten.
Und dann blieb er stehen und bestaunte die grune Vegetation, die ihn umgab, als er den Hugel hinabblickte. Plotzlich verfolgte ihn eine lebende Erinnerung an die hydroponischen Treibhauser der Harmonie, an Hitze und Feuchtigkeit, die den Arbeitern den Schwei? aus allen Poren trieb. Sein Besatzungsmitglied trat wieder in den Tunnel zuruck, und er beorderte ihn scharf an seine Seite. In periodischen Abstanden wurde der Dienst in den hydroponischen Anlagen von allen Burgern verlangt. Auch er hatte diesen Dienst in seiner Jugendzeit abgeleistet, aber heute, als Hand der Harmonie, wurde er ihm selbstverstandlich nicht mehr auferlegt.
Doch die Handvoll von zerlumpten Arbeitern sah nicht unbehaglicher aus als die bei der Schleuse. Durch seinen Anzug geschutzt, wurde er niemals die volle Realitat der Garten erfahren konnen, nicht erfahren, wie das Leben auf der Alten Erde gewesen war. Zwei verschiedene Zukunfte begegneten ihm hier, im Gleichgewicht von Leben und Tod — und er wurde, wie man es auch betrachtete, diese Gelegenheit nie mehr haben…
Er blickte zuruck zu dem Meer abgestumpfter, schmutziger Gesichter, die genetische Mangel wie ein Brandzeichen kenntlich machten. Hoch uber ihnen, uber allem, beschattet und halb verborgen von den Baumen, war eine transparente Hulle, die ebenfalls an manchen Stellen behelfsma?ig geflickt war. Einst mu?te dort noch mehr gewesen sein — etwa ein Kraftfeld, um die Arbeiter vor der Sonnenstrahlung zu schutzen… eine Schutzvorrichtung, die schon lange verloren war. In der Gro?en Harmonie wurde ein andauernder Dienst in den hydroponischen Anlagen als Strafe verhangt. Auch hier stellte er eine Strafe dar, wenn auch auf etwas andere Weise, eine Strafe fur das Verbrechen, zum Opfer geworden zu sein… Er nahm seinen Helm nicht ab, da die Gefahr der Verseuchung ihm erneut bewu?t geworden war, nicht die Verseuchung im Sinne einer Krankheit, sondern die weit gefahrlichere Verseuchung des Verstandes. Schlie?lich war dies hier nicht der Ort, an dem er solche Gefuhle haben wollte.
„Was ist jetzt?“ Einer von ihnen zerrte an Wind Kitavus Armel und ri? ihm das zerlumpte Hemd fast vom Leib. „Tragen sie
Wind Kitavu befreite sich und zog sein Hemd wieder uber die Schulter. „Nein…“ Mit gedampfter Stimme sprach er weiter, immer wieder in ihre Richtung gestikulierend. Raul konnte die Worte nicht mehr verstehen. Er bewunderte die sanften Bewegungen der Baume, sah einen nur zu vertrauten Ausdruck nach und nach auf allen Gesichtern erscheinen, eine so tief wurzelnde Verzweiflung, da? sie sich nicht einmal mehr in Zorn verwandeln konnte.
Wind Kitavu fragte seinerseits etwas, und der Arbeiter, mit dem er gesprochen hatte, deutete vage in die Gegenrichtung. Ohne um Erlaubnis zu bitten, ohne sich auch nur noch ein einziges Mal umzudrehen, stapfte Wind Kitavu zwischen den Buschen davon, pastellfarbene Bluten fielen hinter ihm von den Zweigen.
Raul warf einen Blick in den verlassenen Tunnel hinter ihm. Zum ersten Mal bemerkte er, da? die Lampen uber seinem Kopf ohne Flamme brannten. Elektrizitat… irgendwo hatten diese Menschen immer noch einen funktionierenden Generator, vielleicht eine Atombatterie aus der Zeit vor dem Krieg — oder durch einen spateren Handel mit dem Demarchy erworben. Wieder dachte er uber die Tatsache nach, da? die Gro?e Harmonie wegen des Demarchy nichts dergleichen hatte. Waren nicht die riesigen Schnee Vorrate, dann ware die Gro?e Harmonie in einer noch schlechteren Position als Lansing — und die einzige noch schlechtere Position war der Tod.
Beim Stichwort Demarchy fielen ihm auch wieder Wadie Abdhiamal und das Ratsel ein, das hinter ihrem bevorstehenden Treffen stand. Er hatte Abdhiamal als Unterhandler auf Schnee-der-Errettung kennengelernt: unerfahren und bezuglich seiner eigenen Position unsicher, und doch hatte er beide Seiten zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit bringen konnen — mit einer Fairne?, die die Barrieren zwischen den Kulturen uberwunden hatte wie ein gluhender Dolch, der durch einen Eisblock gesto?en wird. Als Schiffskapitan hatte er Abdhiamal zu den Treffen in der Zentralen Harmonie gebracht, wie auch zu fast allen anderen Felsen der Ringe. Er war Zeuge geworden, wie man den Mann ignoriert, verlacht, beschuldigt, ihm gedroht hatte, und doch hatte er nie die Geduld verloren… Und er selbst war zunachst uberrascht, argwohnisch, und dann erfreut gewesen, als Abdhiamal ihn