Hier in Athen nimmt die Unterhaltung ihren angemessenen Platz ein. Au?erdem ist sie Leben, nicht Konserve. In einer Gemeinschaft dieser Gro?e ist es moglich, eine fast vollstandige Publikumsbeteiligung mit allem, was das fur die Veranstalter und Kunstler bedeutet, zu erreichen. Zum Beispiel haben wir ein sehr gutes Symphonieorchester, wahrscheinlich gehort es zu den funf oder sechs besten der Welt.

Aber ich will nicht, da? Sie sich in all diesen Dingen auf mein Wort verlassen. Es geht meistens so vor sich, da? Anwarter einige Tage hier bleiben, um Fuhlung zu gewinnen. Wenn sie beschlie?en, sich zu uns zu gesellen, mussen sie all die psychologischen Prufungen uber sich ergehen lassen, die in der Tat unsere Hauptverteidigung sind. Etwa ein Drittel der Bewerber wird abgelehnt, gewohnlich aus Grunden, die kein schlechtes Licht auf sie werfen und au?erhalb der Kolonie keine Rolle spielen wurden. Diejenigen, die alle Prufungen bestehen, begeben sich nach Hause, um ihre Angelegenheiten zu ordnen, und schlie?en sich uns dann wieder an. Zuweilen andern sie in dieser Zeit ihren Entschlu?, aber das kommt sehr selten vor und ist immer auf personliche Grunde zuruckzufuhren, auf die sie keinen Einflu? haben. Unsere Prufungen sind heute hundertprozentig verla?lich: Die Menschen, die sie bestehen, wollen wirklich herkommen.“

„Und wenn nun jemand spater seine Meinung andert?“ fragte Jean besorgt.

„Dann konnte er weggehen. Da gibt es keine Schwierigkeit. Es ist ein- oder zweimal vorgekommen.“

Ein langes Schweigen folgte. Jean sah George an, der sich nachdenklich die Bartkoteletten rieb, die augenblicklich in Kunstlerkreisen beliebt waren. Jean war nicht uberma?ig beunruhigt, solange sie ihre Schiffe nicht hinter sich verbrannten. Die Kolonie schien ein interessanter Ort zu sein und bestimmt nicht so narrisch, wie sie gefurchtet hatte. Und den Kindern wurde es hier gefallen. Und schlie?lich kam es darauf in der Hauptsache an.

Sechs Wochen spater zogen sie ein. Das einstockige Haus war klein, aber vollig ausreichend fur eine Familie, die nicht die Absicht hatte, sich uber ihre vier Mitglieder hinaus zu vergro?ern. Alle wichtigen arbeitssparenden Apparate waren vorhanden. Wenigstens gab Jean zu, da? keine Gefahr bestand, in die dunklen Zeitalter der hauslichen Plackerei zuruckversetzt zu werden. Es war jedoch etwas storend, zu entdecken, da? eine Kuche vorhanden war. In einer Gesellschaft von dieser Gro?e hatte man unter normalen Umstanden erwarten mussen, da? man die Ernahrungszentrale anriefe, funf Minuten wartete und dann das Essen bekame, das man bestellt hatte. Individualismus war ja sehr schon, aber dies konne doch die Dinge allzu weit treiben, furchtete Jean. Sie uberlegte mit dusteren Gefuhlen, ob man wohl von ihr erwartete, da? sie die Bekleidung der Familie anfertigte, so wie sie die Mahlzeiten bereiten mu?te. Aber es stand kein Spinnrad zwischen der selbsttatigen Abwaschmaschine und dem Radargerat, also ganz so schlimm war es wohl nicht.

Naturlich sah das Haus noch sehr kahl und nuchtern aus. Sie waren die ersten Bewohner, und es wurde einige Zeit dauern, bis diese keimfreie Neuheit in ein warmes, menschliches Heim verwandelt war. Die Kinder wurden zweifellos diesen Vorgang sehr wirksam beschleunigen.

Jean trat an das noch nicht mit Vorhangen versehene Fenster und blickte uber die Kolonie hin. Es war ein schoner Ort, daran gab es keinen Zweifel. Das Haus stand am Westhang des niedrigen Hugels, der, in Ermangelung irgendwelcher Rivalen, die Insel Athen beherrschte. Zwei Kilometer weiter nordlich konnte sie den Damm sehen, eine schmale Messerschneide, die das Wasser teilte und nach Sparta fuhrte. Jene felsige Insel mit ihrem brutenden Vulkankegel bildete einen solchen Gegensatz zu diesem friedlichen Fleck, da? es sie bisweilen erschreckte. Sie fragte sich, wie die Gelehrten so sicher sein konnten, da? der Vulkan niemals wieder erwachen und sie alle vernichten wurde. Eine schwankende Gestalt, die den Hang heraufkam und sich sorgsam im Schatten der Palmen hielt, erregte ihre Aufmerksamkeit. George kehrte von seiner ersten Konferenz zuruck. Es war Zeit, mit den Traumereien aufzuhoren und sich um das Hauswesen zu kummern.

Ein metallisches Gerassel verkundete die Ankunft von Georges Fahrrad. Jean fragte sich, wie lange es dauern wurde, bis sie beide fahren gelernt hatten. Dies war noch eine andere unerwartete Seite des Lebens auf der Insel. Privatautos waren nicht erlaubt und ja auch unnotig, da die gro?te Entfernung, die man in gerader Linie zurucklegen konnte, weniger als funfzehn Kilometer betrug. Es gab verschiedene Fahrzeuge, die der Gemeinde gehorten: Lastautos, Krankenwagen und Feuerspritzen, die alle, au?er in wirklichen Notfallen, nur funfzig Stundenkilometer fahren durften. Infolgedessen hatten die Bewohner von Athen viel Bewegungsfreiheit, keine verstopften Stra?en — und keine Verkehrsunfalle.

George gab seiner Frau einen fluchtigen Ku? und sank mit einem Seufzer der Erleichterung auf den nachsten Stuhl. „Puh!“ sagte er und wischte sich die Stirn. „Alle haben mich auf dem Weg bergauf uberholt; wahrscheinlich gewohnen sich die Leute also wirklich daran. Ich glaube, ich habe schon zehn Kilo verloren.“

„Wie ist es dir ergangen?“ fragte Jean pflichtschuldig. Sie hoffte, George wurde nicht zu erschopft sein, um beim Auspacken zu helfen.

„Sehr anregend. Naturlich kann ich mich nicht mehr auf die Halfte der Leute besinnen, die ich getroffen habe, aber sie schienen sehr angenehm zu sein. Und das Theater ist genauso gut, wie ich gehofft habe. Wir beginnen die Arbeit nachste Woche mit Shaws ›Zuruck zu Methusalem’. Man hat mir die ganze Ausstattung und die Entwurfe ubertragen. Das ist etwas anderes, als wenn standig ein Dutzend Leute mir sagen will, was ich nicht tun soll. Ja, ich glaube, es wird uns hier gefallen.“

„Trotz der Fahrrader?“

George brachte eine Art Lacheln zustande. „Ja“, sagte er, „in einigen Wochen werde ich unsern kleinen Hugel nicht einmal bemerken.“

Das glaubte er in Wirklichkeit nicht, aber es entsprach der Wahrheit. Es dauerte jedoch noch einen weiteren Monat, bis Jean das Auto wirklich verschmerzt und all die Dinge entdeckt hatte, die man mit seiner eigenen Kuche machen konnte.

Neu-Athen war nicht naturlich und folgerichtig entstanden wie die Stadt, deren Namen es trug. Alles in der Kolonie war sorgfaltig geplant und das Ergebnis langjahriger Studien einer Gruppe sehr bemerkenswerter Manner. Es hatte als offene Verschworung gegen die Overlords begonnen, als eine stillschweigende Auflehnung gegen ihre Politik, wenn nicht gegen ihre Macht. Zunachst waren die Grunder der Kolonie mehr als zur Halfte uberzeugt gewesen, da? Karellen ihre Plane durchkreuzen wurde, aber der Oberkontrolleur hatte nichts unternommen, uberhaupt nichts. Das war nicht ganz so beruhigend, wie man hatte erwarten konnen. Karellen hatte viel Zeit: Er konnte einen spateren Gegenschlag vorbereiten. Oder er war so fest von dem Mi?lingen des Plans uberzeugt, da? er es nicht fur notwendig hielt, irgend etwas dagegen zu unternehmen.

Da? die Kolonie Schiffbruch erleiden wurde, hatten die meisten Leute vorausgesagt. Aber in der Vergangenheit, lange bevor man etwas uber soziale Dynamik wu?te, hatte es ja auch viele Gemeinden gegeben, die besondere religiose oder philosophische Ziele verfolgten. Gewi?, ihre Sterblichkeitsziffer war hoch gewesen, aber einige hatten weitergelebt. Und die Grundlagen von Neu-Athen waren so sicher, wie die moderne Wissenschaft sie machen konnte.

Es gab viele Grunde dafur, eine Insel als Sitz zu wahlen. Nicht die unwichtigsten waren psychologischer Art. In einem Zeitalter des universalen Luftverkehrs bedeutete der Ozean als physikalische Grenze nichts, gab aber doch ein Gefuhl der Abgeschlossenheit. Uberdies machte eine begrenzte Landflache es unmoglich, da? zu viele Menschen in der Kolonie lebten. Die Hochstzahl der Bevolkerung war auf etwa hunderttausend festgesetzt; wenn sie gro?er ware, wurden die Vorteile einer kleinen, engverbundenen Gemeinde verlorengehen. Eines der Ziele der Grunder war, da? jeder Burger von Neu-Athen alle andern Burger, die seine Interessen teilten, kennen sollte und auch ein oder zwei Prozent der ubrigen.

Der Mann, der die treibende Kraft bei der Grundung von NeuAthen gewesen war, hatte die Verwirklichung seines Traumes nicht mehr erlebt, denn er war drei Jahre vor der Entstehung der Kolonie gestorben.

Er war in Israel geboren, einer der letzten unabhangigen Nationen, die sich noch bildeten, und die also auch die kurzeste Lebensdauer gehabt hatten. Das Ende der nationalen Unabhangigkeit war hier vielleicht bitterer empfunden worden als anderswo, denn man trennt sich schwer von einem Traum, den man erst nach jahrhundertelangen Kampfen verwirklicht hat.

Ben Salomon war kein Fanatiker, aber die Erinnerungen seiner Kindheit mochten in nicht geringem Umfang die Philosophie bestimmt haben, die er in die Praxis umsetzte. Er konnte sich noch erinnern, wie die Welt vor Ankunft der Overlords gewesen war, und er hatte nicht den Wunsch, zu jenem Zustand zuruckzukehren. Gleich vielen andern klugen und wohlmeinenden Menschen wu?te er alles zu schatzen, was Karellen fur die menschliche Rasse getan hatte, wahrend er uber die endgultigen Plane des Oberkontrolleurs noch immer besorgt war. Konnte es moglich sein, fragte er sich bisweilen, da? die Overlords, trotz all ihrer ungeheuren Intelligenz, die Menschheit nicht wirklich verstanden und aus besten Beweggrunden einen furchtbaren Irrtum begingen? Vielleicht hatten sie in ihrer Leidenschaft fur Gerechtigkeit und Ordnung beschlossen, die Welt zu reformieren, dabei aber nicht erkannt,

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