Aufsicht stehen. Dieses Versprechen haben wir gehalten. Ich habe Ihre Kinder beobachtet, nicht Sie.“

Es dauerte mehrere Sekunden, bis George den Sinn von Raschaveraks Worten begriff. Dann wich langsam die Farbe aus seinem Gesicht. „Sie meinen.“, achzte er. Seine Stimme versagte, und er mu?te neu beginnen. „Ja, was in Gottes Namen sind meine Kinder?“

„Das“, sagte Raschaverak feierlich, „versuchen wir zu entdecken.“

Jennifer Anne Greggson, bisher Puppi genannt, lag mit fest geschlossenen Augen auf dem Rucken. Sie hatte sie nicht geoffnet; sie wurde sie nie wieder offnen, denn das Sehen war jetzt ebenso uberflussig fur sie wie fur die mit vielen Sinnen ausgestatteten Geschopfe der lichtlosen Ozeantiefen. Sie nahm die Welt, die sie umgab, wahr, ja sie nahm viel mehr wahr als das.

Durch irgendeine unberechenbare Laune der Entwicklung war ein Reflex aus ihrer kurzen Sauglingszeit geblieben. Die Klapper, die sie einst entzuckt hatte, ertonte jetzt unaufhorlich aus* ihrem Bettchen in einem verwickelten, immer wieder sich andernden Rhythmus. Diese seltsame Synkopierung hatte Jean aus dem Schlaf gerissen und sie ins Kinderzimmer sturzen lassen. Aber nicht dieser Ton allein hatte sie veranla?t, nach George zu schreien.

Schuld daran war der Anblick dieser gewohnlichen bunten Klapper, die einen halben Meter entfernt in luftiger Hohe unentwegt klapperte, wahrend Jennifer Anne, die drallen Finger fest zusammengepre?t, mit einem Lacheln dalag.

Sie hatte spater begonnen, aber sie machte schnelle Fortschritte. Bald wurde sie ihren Bruder uberholen, denn sie brauchte weniger zu verlernen.

„Sie haben klug daran getan“, sagte Raschaverak, „ihr Spielzeug nicht zu beruhren. Ich glaube nicht, da? Sie es hatten bewegen konnen. Aber wenn es Ihnen gegluckt ware, hatte es sie vielleicht geargert, und ich wei? nicht, was dann geschehen ware.“

„Meinen Sie“, fragte George dumpf, „da? Sie nichts tun konnen?“

„Ich will Sie nicht tauschen. Wir konnen studieren und beobachten, wie wir es bereits tun. Aber wir konnen uns nicht einmischen, weil wir es nicht verstehen konnen.“

„Was sollen wir denn machen? Und warum ist uns dies geschehen?“

„Es mu?te irgend jemandem geschehen. Sie haben nichts Au?ergewohnliches an sich, nicht mehr als das erste Neutron, das die Kettenreaktion einer Atombombe beginnt. Es ist einfach zufallig das erste. Jedes andere Neutron hatte dazu auch dienen konnen, genau wie es statt Jeffrey irgendein Knabe in der Welt hatte sein konnen. Wir nennen es den Volligen Durchbruch. Wir brauchen jetzt nichts geheimzuhalten, und daruber bin ich sehr froh. Wir haben, seit wir zur Erde gekommen sind, darauf gewartet, da? gerade dies geschehen wurde. Man konnte nicht sagen, wann und wo es beginnt, bis wir uns rein durch Zufall auf der Party bei Rupert Boyce begegneten. Da wu?te ich fast mit Sicherheit, da? die Kinder Ihrer Frau die ersten sein wurden.“

„Aber wir waren damals noch nicht verheiratet. Wir hatten nicht einmal — “

„Ja, ich wei?. Aber Fraulein Morrels Geist war der Kanal, der, wenn auch nur fur einen Augenblick, ein Wissen durchlie?, das zu jener Zeit kein Lebender besitzen konnte. Es konnte nur von einem anderen Geist kommen, der eng mit dem ihren verbunden war. Die Tatsache, da? es ein noch ungeborener Geist war, hatte keine Bedeutung, denn Zeit ist sehr viel sonderbarer, als Sie annehmen.“

„Ich beginne zu begreifen. Jeff wei? diese Dinge. Er kann andere Welten sehen und kann sagen, woher Sie kommen. Und irgendwie hat Jean seine Gedanken aufgefangen, noch ehe er geboren war.“

„Es hangt noch viel mehr damit zusammen, aber ich glaube nicht, da? Sie der Wahrheit jemals viel naher kommen werden. In der ganzen Geschichte hat es immer wieder Menschen mit unerklarlichen Kraften gegeben, die Raum und Zeit zu durchdringen schienen. Sie haben diese Krafte nie verstanden: fast ohne Ausnahme waren ihre Erklarungsversuche Unsinn. Ich durfte es wissen — ich habe genug daruber gelesen.

Aber es gibt einen Vergleichsfall, der — nun sagen wir: suggestiv und hilfreich ist. Er kommt wieder und wieder in Ihrer Literatur vor. Stellen Sie sich vor, da? der Geist jedes Menschen eine vom Ozean umgebene Insel ist. Jeder erscheint isoliert, in Wirklichkeit aber sind alle verbunden durch das Fundament, von dem sie stammen. Wenn der Ozean verschwande, ware es das Ende der Inseln. Sie wurden alle Teile eines Kontinents sein, aber ihre Besonderheit ware vergangen.

Gedankenubertragung, wie Sie es genannt haben, ist etwas Ahnliches. Unter angemessenen Umstanden konnen die Gedankenwelten einiger Menschen miteinander verschmelzen und sich ihren Inhalt gegenseitig mitteilen; sie nehmen die Erinnerung an dieses Erlebnis mit, wenn sie wieder isoliert sind. In der hochsten Form ist diese Kraft nicht den gewohnlichen Begrenzungen durch Zeit und Raum unterworfen. Daher konnte Jean aus dem Wissen ihres ungeborenen Sohnes schopfen.“

Ein langes Schweigen folgte, wahrend George mit diesen verbluffenden Gedanken rang. Die Idee begann Formen anzunehmen. Es war eine unglaubliche Idee, aber sie hatte ihre eigene, angestammte Logik. Und sie erklarte, wenn dieses Wort fur et was so Unfa?liches anzuwenden war, alles, was seit jenem Abend in Rupert Boyces Hause geschehen war. Sie erklarte auch, wie er jetzt erkannte, Jeans eigene Neugier nach dem Ubernormalen.

„Wodurch wurde dies in Gang gesetzt?“ fragte George. „Und wohin wird es fuhren?“

„Das konnen wir nicht beantworten. Aber es gibt viele Rassen im Universum, und einige von ihnen entdeckten diese Krafte, lange bevor Ihre Art — oder die meine — auf dem Schauplatz erschien. Sie haben darauf gewartet, da? Sie sich ihnen anschlie?en, und jetzt ist diese Zeit gekommen.“

„Und wann kommt Ihr Auftritt?“

„Wahrscheinlich haben Sie, gleich den meisten Menschen, uns immer als Ihre Herren und Meister angesehen. Das stimmt nicht. Wir sind nie mehr als Wachter gewesen, die eine Pflicht erfullt haben, die uns von — oben auferlegt worden war. Diese Pflicht ist schwer zu erklaren. Vielleicht konnen Sie sich uns am besten als Hebammen vorstellen, die einer schwierigen Geburt beiwohnen. Wir helfen dabei, etwas Neues und Wundervolles zur Welt zu bringen.“

Raschaverak zogerte; einen Augenblick schien es, als fehlten ihm die Worte. „Ja, wir sind die Hebammen. Aber wir selbst sind unfruchtbar.“

In diesem Augenblick wu?te George, da? er Zeuge einer Tragodie war, die seine eigene ubertraf. Es war unglaublich, und doch irgendwie richtig. Trotz all ihrer Krafte und ihrer Macht waren die Overlords in irgendeiner engen Sackgasse der Entwicklung gefangen. Hier war eine gro?e, edle Rasse, in fast allen Dingen der Menschheit uberlegen, und doch hatte sie keine Zukunft und war sich dessen bewu?t. Angesichts dieser Tragodie erschienen George seine eigenen Probleme auf einmal alltaglich.

„Jetzt wei? ich“, sagte er, „warum Sie Jeffrey beobachtet haben. Er war das Versuchskaninchen bei diesem Experiment.“

„Sehr richtig, obwohl das Experiment au?erhalb unserer Kontrolle war. Wir haben es nicht begonnen, wir haben nur versucht, es zu beobachten. Wir haben uns nicht eingemischt, au?er wenn wir es mu?ten.“

Ja, dachte George, die Sturmflut. Man durfte nie ein wertvolles Exemplar zerstoren lassen. Dann schamte er sich seiner selbst. Eine solche Bitterkeit war unwurdig.

„Ich habe nur noch eine weitere Frage“, sagte er. „Was sollen wir mit unseren Kindern machen?“

„Freuen Sie sich an ihnen, solange Sie konnen“, erwiderte Raschaverak sanft, „sie werden Ihnen nicht lange gehoren.“

Das war ein Rat, den man allen Eltern zu jeder Zeit hatte geben konnen, aber jetzt barg er eine Drohung und ein Grauen wie niemals zuvor.

5

Es kam die Zeit, da die Welt von Jeffreys Traumen nicht mehr deutlich von seinem Alltagsleben getrennt war. Er besuchte die Schule nicht mehr, und auch fur Jean und George waren die Lebensgewohnheiten vollig verandert, wie sie es bald in der ganzen Welt sein wurden.

Sie gingen all ihren Freunden aus dem Wege, als ware es ihnen schon jetzt bewu?t, da? bald niemand mehr Sympathie fur sie haben wurde. In der Stille der Nacht, wenn wenige Menschen unterwegs waren, machten sie zuweilen lange Spaziergange. Sie waren sich jetzt naher als je seit den ersten Tagen ihrer Ehe, wiedervereinigt angesichts der noch unbekannten Tragodie, die sie bald uberwaltigen wurde.

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