Ein Tag im Juni

Geh an einem Sommermorgen in Stockholm zum Kai am Strandvag hinunter und schau nach, ob dort ein kleiner wei?er Scharendampfer mit dem Namen »Saltkrokan I« liegt. Wenn es so ist, dann ist es der richtige Dampfer, und man braucht nur an Bord zu gehen. Punkt zehn Uhr wird er zur Abfahrt lauten und ruckwarts von der Pier ablegen; denn jetzt geht er hinaus auf seine gewohnte Fahrt, die bei den Inseln weit drau?en endet, dort, wo das Meer beginnt. Die »Saltkrokan I« ist ein zielbewu?ter und energischer kleiner Dampfer; seit mehr als drei?ig Jahren macht sie dreimal in der Woche diese Fahrt. Wahrscheinlich wei? sie, nicht, da? sie Gewasser durchpflugt, denen nichts sonst auf dieser Erde gleicht. Uber weite Fjorde und durch schmale Sunde, an Hunderten von grunen Inselchen und Tausenden von grauen Scharen* [* Schare (schwedisch): kleine Felsinsel, Kustenklippe an den skandinavischen und den finnischen Kusten.] vorbei steuert sie unverdrossen vorwarts. Schnell geht es nicht, und die Sonne steht schon tief, wenn sie bei ihrer letzten Anlegestelle ankommt, der auf Saltkrokan, jener Insel, die ihr den Namen gab. Weiter hinaus braucht sie nicht zu fahren. Hinter Saltkrokan fangt das offene Meer an mit kahlen Felsinseln und nackten Klippen, wo niemand wohnt als die Eidergans und die Mowe und andere Meeresvogel.

Aber auf Saltkrokan wohnen Menschen. Nicht viele. Hochstens zwanzig. Das hei?t: im Winter. Im Sommer kommen noch Sommergaste hinzu.

Genau so eine Familie von Sommergasten fuhr eines Tages im Juni auf der »Saltkrokan I« hinaus. Es war ein Vater mit seinen vier Kindern. Melcherson hie?en sie, Stockholmer waren sie, keiner von ihnen war jemals auf Saltkrokan gewesen. Deshalb waren sie jetzt sehr erwartungsvoll, vor allem Melcher, der Papa.

»Saltkrokan«, sagte er. »Der Name gefallt mir. Deswegen habe ich auch dort gemietet.«

Malin, seine Neunzehnjahrige, warf ihm einen Blick zu und schuttelte den Kopf. Oh, was fur ein leichtsinniger Vater! Er wurde bald funfzig, war aber impulsiv wie ein Kind und jungenhafter und unbekummerter als seine eigenen Jungen. Jetzt stand er da, aufgeregt wie ein Kind am Heiligabend, und erwartete, da? alle sich uber seinen Einfall, ein Sommerhaus auf Saltkrokan zu mieten, freuten.

»Das sieht dir ahnlich«, sagte Malin, »das sieht dir so richtig ahnlich, ein Sommerhaus auf einer Insel zu mieten, die du nie gesehen hast, nur weil du findest, da? der Name so gut klingt.«

»Ich dachte, alle Leute machten das so«, verteidigte sich Melcher, doch dann verstummte er und dachte nach. »Aber vielleicht mu? man Schriftsteller und mehr oder weniger verruckt sein, um so etwas zu tun? Nur ein Name – Saltkrokan, haha! Andere Leute fahren vielleicht vorher hin und gucken erst mal nach!«

»Einige tun das, ja! Nur du nicht!«

»Na ja, jetzt bin ich unterwegs«, sagte Melcher leichthin.

»Jetzt fahre ich hin und gucke.«

Und er schaute sich mit frohlichen blauen Augen um. Er sah alles, was ihm so lieb war, dieses fahle Wasser, diese Inseln und Holme, diese grauen Scharen aus ehrwurdigem schwedischen Urgestein, die Ufer mit ihren alten Hausern und Anlegern und Bootshausern. Er hatte das Gefuhl, er mu?te die Hand ausstrecken und alles streicheln. Statt dessen fa?te er Johann und Niklas ums Genick.

»Begreift ihr, da? es schon ist? Begreift ihr, wie glucklich ihr sein konnt, da? ihr den ganzen Sommer hier mittendrin wohnen durft?« Johann und Niklas sagten, sie begriffen es. Pelle sagte, er begreife es auch. »Na, aber warum jubelt ihr dann nicht?« fragte Melcher. »Darf ich um ein bi?chen Jubel bitten!«

»Wie macht man das?« erkundigte sich Pelle. Er war erst sieben Jahre alt und konnte nicht auf Befehl jubeln.

»Man brullt«, sagte Melcher und lachte ausgelassen. Dann versuchte er selbst, ein wenig zu brullen, und seine Kinder kicherten dankbar.

»Du horst dich an wie eine Kuh«, sagte Johann, und Malin wandte ein: »Ob wir nicht sicherheitshalber mit dem Brullen warten, bis wir das Haus gesehen haben, das du gemietet hast?«

Das fand Melcher nicht.

»Das Haus ist wunderbar, hat der Makler gesagt. Und man sollte sich doch wohl darauf verlassen konnen, was die Leute einem sagen. So ein richtig gemutliches altes Sommerhaus, das hat er mir versichert.«

»Ach, waren wir doch bald da«, sagte Pelle. »Ich mochte dieses Sommerhaus jetzt sofort sehen.«

Melcher guckte auf seine Uhr.

»Noch eine Stunde, mein Junge. Bis dahin haben wir allesamt machtigen Hunger. Und konnt ihr raten, was wir dann tun?«

»Essen«, schlug Niklas vor.

»Richtig. Wir setzen uns vors Haus in die Sonne und verspeisen das wunderbar gute kleine Mahl, das Malin fur uns bereitet hat. Im grunen Gras, versteht ihr? Wir sitzen nur da und fuhlen, da? Sommer ist!«

»Oh«, sagte Pelle, »jetzt brulle ich gleich.«

Doch dann beschlo? er, etwas anderes zu unternehmen. Es sei noch eine Stunde bis zur Ankunft, hatte sein Vater gesagt, und es gab wohl auch auf diesem Dampfer noch allerlei zu tun. Das meiste hatte er bereits erledigt. Er war alle Treppen hinauf-und hinuntergeklettert und hatte in alle aufregenden Winkel und Ecken geguckt. Er hatte die Nase in die Steuermannskajute gesteckt und war weggejagt worden. Er hatte einen kleinen Besuch im E?salon gemacht und war weggejagt worden. Er hatte versucht, zum Kapitan auf die Kommandobrucke zu kommen und war weggejagt worden. Er hatte von oben in den Maschinenraum geschaut und sich alle Rader und Pleuelstangen angesehen, die da stampften und sich drehten. Er hatte sich uber die Reling gebeugt und in den gischtenden wei?en Schaum gespuckt, den der Dampfer aufri?. Er hatte Brause getrunken und auf dem Achterdeck Zimtwecken gegessen. Er hatte kleine Brocken davon den hungrigen Mowen zugeworfen. Er hatte sich mit fast allen Menschen an Bord unterhalten. Er hatte ausprobiert, wie schnell er von vorn nach hinten rennen konnte, und er war jedesmal der Schiffsbesatzung in den Weg gelaufen, wenn der Dampfer an einem Bootssteg anlegte und Frachtguter und Gepack ausgeladen wurden. Ja, er hatte alles getan, was ein siebenjahriger Junge an Bord eines Scharendampfers gewohnlich tut.

Jetzt sah er sich nach etwas Neuem um, und da entdeckte er zwei Fahrgaste, die er bisher noch nicht bemerkt hatte. Ganz hinten auf dem Achterdeck sa? ein alter Mann mit einem kleinen Madchen. Und neben dem Madchen auf der Bank stand ein Vogelbauer mit einem Raben darin. Einem lebendigen Raben. Das brachte Pelle in Bewegung. Er liebte namlich alle Arten Tiere, alles, was lebendig war und sich bewegte, was unterm Firmament des Himmels flog oder kroch, alle Vogel und Fische und Vierfu?er. »Kleine liebe Tierlein«, nannte er sie alle miteinander, und dazu zahlte er auch Frosche und Wespen, Heuschrecken und Kafer und anderes Gewurm.

Aber im Augenblick war da also ein Rabe, ein lebendiger Rabe!

Das kleine Madchen lachelte ihn mit einem freundlichen zahnlosen Lacheln an, als er vor dem Kafig stehenblieb.

»Ist das dein Rabe?« fragte er und steckte einen Zeigefinger zwischen die Gitterstabe, um den Raben womoglich ein bi?chen zu streicheln. Das hatte er lieber nicht tun sollen. Der Rabe hackte nach ihm, und er zog die Hand schnell wieder zuruck.

»Nimm dich vor Kalle Hupfanland in acht«, sagte das Madchen. »Ja, es ist mein Rabe. Nicht wahr, Gro?vater?«

Der Alte neben ihr nickte.

»Sicher! Sicher ist es Stinas Rabe«, erklarte er Pelle.

»Jedenfalls, wenn sie bei mir auf Saltkrokan ist.«

»Ihr wohnt auf Saltkrokan?« fragte Pelle begeistert. »Da wohne ich diesen Sommer auch. Ich meine, wir wohnen auf Saltkrokan, Papa und wir alle.«

Der Alte betrachtete ihn mit Interesse.

»Soso, sieh mal einer an. Dann seid ihr wohl die Leute, die das alte Schreinerhaus gemietet haben?«

Pelle nickte eifrig. »Ja, die sind wir. Ist es da schon?«

Der alte Mann legte den Kopf schief und sah aus, als ob er nachdachte. Dann brach er in ein komisches glucksendes Lachen aus.

»Sicher! Sicher ist es schon! Kommt blo? drauf an, was man mag.«

»Wieso?« fragte Pelle.

Der Alte gluckste von neuem.

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