ruhren, nicht zu flustern, kaum zu atmen. Sie konnten nur stilliegen und lauschen. Und sie horten, wie Frau Vesterman sich dort drinnen bewegte. Das Fenster stand offen, sie war ihnen so nahe, da? sie die Hand uber das Fenstersims strecken und guten Tag sagen konnten, wenn sie wollten. Sie murmelte, und mit einemmal fing sie an zu lesen. Ja, wahrhaftig, fing sie nicht an, sich selbst laut etwas vorzulesen? Tjorven stohnte ganz leise. Es ware ja noch gegangen, wenn sie etwas aus der Norrtaljer Zeitung oder so gelesen hatte, aber hier zusammengekrummt zu liegen wie eine Garnele und sich Dinge anhoren zu mussen, von denen man nicht das geringste verstand, das war zuviel.
Pelle verstand es auch nicht, aber ihm schien so, als ware es etwas aus der Bibel. Sie hatte eine eintonige Stimme, aber sie las ohne Stocken. Pelle horchte. Mit einemmal kamen einige Worte, die aus dem Unerklarlichen heraustraten und zu schimmern begannen, wie Worte manchmal fur ihn schimmern konnten. Oh, wie klang es schon!
»Nahme ich Flugel der Morgenrote, machte ich mir eine Wohnung zuau?erst im Meer …«* [
Aus der Fortsetzung machte sich Pelle nichts. Es waren nur diese Worte, die durfte er nicht vergessen! Er murmelte sie leise vor sich hin. »Nahme ich Flugel der Morgenrote, machte ich mir eine Wohnung zuau?erst im Meer …« Wie zum Beispiel das Schreinerhaus. Das lag auf der Insel zuau?erst im Meer. Hier wollte man sein. Hierher konnte man sich sehnen, wenn man daheim in der Stadt war. Wenn man dann Flugel der Morgenrote hatte und hierherfliegen konnte uber alle Fjorde und Gewasser, oh, wie schon ware das! Zu meiner Wohnung zuau?erst im Meer – ins Schreinerhaus.
Pelle war ganz in seine Gedanken vertieft, er lag da und murmelte und merkte nicht, da? Frau Vesterman verstummt war, bis Tjorven ihn knuffte. Was wurde jetzt geschehen? Jetzt loschte sie die Lampe, und dort drinnen wurde es dunkel. Und plotzlich horte Pelle jemanden genau uber seinem Kopfe schwer atmen. Er wagte nicht hochzugucken, aber ihm war klar, da? Frau Vesterman am offenen Fenster stand, und es war entsetzlich, hier zusammengekrummt zu liegen und nur zu horchen und zu warten. Jetzt – jetzt wurde sie sie entdecken, dessen war er sicher! Als er aber gerade merkte, da? er es keine Sekunde langer aushalten konnte, schlug das Fenster mit einem Knall zu, so da? sie beide, er und Tjorven, zusammenzuckten, und dann war es still. Sie blieben noch eine Weile so zusammengekauert liegen und horchten auf das Klopfen ihrer eigenen Herzen, dann rannten sie schnell und gebuckt um die Hausecke und zum Bootsschuppen hinunter.
»Moses, bist du da?« flusterte Tjorven.
Und es war kein Zweifel, Moses war da, denn er begann zu schreien. Und Tjorven offnete die Tur.
Ein Schauder uberlief Stina, als sie ihr am nachsten Tag alles erzahlten. Wie Moses geschrien hatte, wie sie sich mit ihm abgeschleppt hatten und wie Vesterman im Hemd herausgekommen war und hinter ihnen her geflucht hatte, als sie gerade durchs Hoftor hatten gehen wollen, wie Cora gebellt hatte und wie sie Moses endlich ins Wagelchen gehoben hatten und wie sie mit ihm nach Hause zum Schreinerhaus gerast waren, wahrend Vesterman im offenen Hoftor gestanden und gedroht hatte:
»Na warte, Tjorven, wenn ich dich zu fassen kriege!«
»Gut, da? ich nicht mit dabei war«, sagte Stina. »Ich ware auf der Stelle tot umgefallen.«
Moses hatte in dieser Nacht neben Pelles Bett geschlafen. Johann und Niklas waren verdutzt, aber durchaus nicht unzufrieden, als sie morgens erwachten und ihren neuen Stubengefahrten erblickten.
»Ich mu? ihn ja hierhaben, sonst kommt Vesterman und holt ihn mir weg«, erklarte Pelle. »Aber jetzt mu?t ihr mir helfen, Papa zu uberreden.«
Wie erwartet, kam sein Vater mit Einwanden.
»Es ist ja gut und schon, da? Tjorven dir Moses geschenkt hat«, sagte Melcher, »aber auf die Dauer ist es wirklich nicht das richtige, da? ihr zwei und Vesterman euch auffuhrt wie Gangster und euch nachts gegenseitig Seehunde klaut.«
Und sie versuchten gemeinsam, sich etwas auszudenken, wie man es richtiger machen konnte. Die ganze Familie sa? beim Morgenkaffee in der Kuche, und sie konnten horen, wie Moses oben im Zimmer der Jungen herumwatschelte.
Malin war von dem neuen Untermieter nicht sonderlich entzuckt, aber Pelle zuliebe mu?te sie ihn ertragen. Pelle hatte gerade jetzt Moses notig, das verstand sie, und Vesterman sollte bitte auch so freundlich sein und es verstehen.
»Der will ja nur Geld haben«, sagte Johann. »Kannst du, Papa, ihm nicht 'n paar Hunderter in die Hand drucken, damit Pelle seinen Seehund behalten kann?«
»Druck ihm doch selbst 'n paar Hunderter in die Hand, dann kannst du mal sehen, wie gut das tut«, antwortete Melcher. »In diesem Fall mussen wir uns gegenseitig helfen. Ihr seid ja sonst nicht auf den Kopf gefallen, wenn es darum geht, Geld zu verdienen. Fangt nur an!«
Und sie fingen an. Jedes Kind auf Saltkrokan wollte bei dem »Unternehmen Moses«, wie Melcher es nannte, mitmachen. Es war alles wie ein Spiel. Plotzlich machte es soviel mehr Spa?, Erdbeerbeete zu jaten und Wasser zu tragen und Boote leer zu schopfen und Stege zu teeren und fur die Sommergaste Koffer zu schleppen, wenn man wu?te, da? mit jedem Ore, das man verdiente, die Summe anwuchs, mit der man Vesterman den Moses abkaufen wollte.
Vesterman grinste, als er zum Kaufmann kam und von dem Unternehmen Moses horte.
»Von mir aus gern«, sagte er. »Mir ist es schnuppe, wer den Seehund kauft. Aber zweihundert will ich haben, und zwar noch in dieser Woche. Denn sonst verkauf ich ihn anderweitig.«
»Zum Kuckuck mit dir, Vesterman«, sagte Tjorven aufrichtig. Da warf Vesterman ihr ein Funfundzwanzig- Ore-Stuck hin.
»Ein kleiner Beitrag fur Moses«, sagte er. »Den werdet ihr notig haben, denn ich glaube nie und nimmer, da? ihr bis Samstag zweihundert zusammenkriegt. Langer warte ich nicht.«
»Zum Kuckuck mit dir«, sagte Tjorven noch einmal sicherheitshalber. Sie hob das Geldstuck jedoch auf und steckte es in Moses' Sparbuchse, die auf dem Ladentisch stand.
»Nein, Tjorven, so etwas sagt man nicht«, sagte Nisse streng. Dann wandte er sich an Vesterman. »Du bist eigentlich ein Gauner, Vesterman, wei?t du das?«
Vesterman grinste nur.
Das Unternehmen Moses nahm seinen Fortgang, von Tag zu Tag immer lebhafter.
»Sieh mal hier, Moses, deinetwegen hab ich Blasen an den Handen«, sagte Freddy, nachdem sie einen ganzen Vormittag Teppiche geklopft hatte.
Aber Moses fuhrte sein eigenes Leben und kummerte sich um keinen Menschen, ihm konnte das Unternehmen Moses grundlich gestohlen bleiben. Seine einsamen Stunden in verschiedenen Bootsschuppen waren ihm offensichtlich nicht gut bekommen. Man konnte ihn kaum wiedererkennen. Er war zappelig geworden und rastlos, geradezu etwas bosartig. Er schrie und zischte viel mehr als fruher. Manchmal versuchte er zu bei?en.
»Er gehort nicht zu den Haustieren, die ich am liebsten um mich habe«, sagte Malin. Sie sagte es jedoch nicht so, da? Pelle es horte. Pelle betete Moses in derselben Weise an, wie er Jocke angebetet hatte, und wenn Moses ihn anzischte, dann streichelte er ihn nur. »Armer kleiner Moses, was hast du? Gefallt es dir nicht bei mir?«
Es hatte den Anschein, als gefiele es Moses nirgends mehr. Im Bootsschuppen wollte er unter keinen Umstanden sein und auch nicht im Teich. Am liebsten hielt er sich unten am Ufer auf, aber dort wagte Pelle ihn nicht mehr hinzulassen, denn Onkel Nisse hatte ihn gewarnt.
»Tu ihn in den Teich, sonst rei?t er bestimmt eines schonen Tages aus.«
Und Pelle hielt Moses im Teich eingesperrt und fragte sich betrubt, wie es wohl ware, wenn man ein Tier besa?e, das nicht ausrei?en wollte. Jocke war ausgerissen – zu seinem eigenen Verderb –, aber Pelle hatte gehofft, da? es mit einem Seehund anders ware. Der arme Moses, weshalb war er so rastlos geworden?
Tottis Bein war jetzt fast geheilt, aber er war noch nicht auf die Schafweide zuruckgekommen. Er folgte Stina, wo sie ging und stand. Und Bootsmann folgte Tjorven. Er hatte das nicht von sich aus wieder angefangen, denn er gehorte nicht zu den Hunden, die sich aufdrangten, solange er nicht wu?te, wie es sein sollte. Schweigend und friedlich hatte er sich auf seinen gewohnten Platz neben der Treppe gelegt, bis Tjorven hinging und die Arme