Wohnungsausschuss melden mussen, keine Frage, aber es gab Dringenderes zu erledigen. Siri stellte ihm seine Entourage der Reihe nach vor; Haeng nahm die Namen fluchtig zur Kenntnis und strich sie sofort wieder aus seinem Gedachtnis. Bei der erstbesten Gelegenheit lotste er Siri und Dtui auf die Veranda. Er nahm ihnen das Versprechen ab, sich bei dem morgigen Besuch von ihrer besten Seite zu zeigen, nicht zuletzt was ihre Berufskleidung betraf: der Doktor im wei?en Kittel, die Schwester in frisch gestarkter wei?er Tracht. Auch durften unter keinen Umstanden »Patienten« zugegen sein. Siri fragte, ob er Leichen meine, und Haeng sagte Ja, genau das meine er. Falls noch welche in der Kuhlkammer lagen, musse Siri morgen eben etwas fruher kommen und sie rechtzeitig entsorgen.

Siri konnte sich die Frage nicht verkneifen, was sie tun sollten, falls sie just zu dem Zeitpunkt, da die Delegation erwartet wurde, eine Leiche hereinbekamen, aber Haeng kummerte es einen feuchten Dreck, was sie damit anstellten, solange in der Pathologie nur alles blitzblank und picobello sei. Sie versicherten ihm, er brauche keine Angst zu haben: Nichts Totes werde den Ruf des staatlichen Leichenschauhauses gefahrden, es werde ein Tag wie kein anderer. Erleichtert trat Haeng den Heimweg an. Der einzige Makel, der das ansonsten beispielhafte Bild effizienter Ministerialarbeit hatte beflecken konnen, war beseitigt. Und, Wunder uber Wunder, sie hatten das leidige Thema mit keinem Wort erwahnt. Dieser Siri war vielleicht doch nicht ganz so unbelehrbar, wie er angenommen hatte. Haeng lehnte sich bequem zuruck und lachelte zum ersten Mal an diesem Tag.

Am nachsten Morgen um Viertel nach neun hielt der Konvoi schwarz glanzender Zil-Limousinen vor der Pathologie. Der Klinikdirektor war erschienen, um die Delegierten willkommen zu hei?en. Er hatte eigens eine Rede verfasst und trug sich mit der Absicht, jedem Besucher ein Armband aus Orchideenbluten zu uberreichen. Doch es herrschte eine Bullenhitze, und die Autos hatten eine Menge Staub aufgewirbelt. Die Vietnamesen wollten von den Albernheiten des Direktors nichts wissen. Sie wollten weiter nichts als den letzten sinnlosen Besuch hinter sich bringen und dann auf schnellstem Wege zum Flughafen. Sie hielten sich ohnehin schon viel zu lange in Laos auf. Sie zwangten sich am Direktor und einem Trupp applaudierender Krankenschwestern vorbei und hielten zielstrebig auf den kuhlen Schatten im Eingang der Pathologie zu. Der Direktor erkannte mindestens zwei hochrangige Parteimitglieder, einen Richter und zwei Polizeigenerale, als sie ihn beiseitedrangten. Leider hing seine Kamera noch immer uber seiner Schulter, und er hatte keinen fotografischen Beweis fur die ungeheure Ehre, die der Klinik hier und jetzt zuteilwurde.

Im Vorraum nahm Dr. Siri die Delegierten in Empfang. Er trug nicht nur einen schneewei?en Laborkittel, sondern noch dazu Hemd und Krawatte. Um seinen Hals hing ein schimmerndes Stethoskop. Er trat neben den breit grinsenden Richter Haeng und begru?te die Vietnamesen in ihrer Muttersprache. Er brauchte keinen Dolmetscher, wie Haeng missmutig zur Kenntnis nahm. Zwar hatte der Richter einen Gro?teil seines Grundstudiums in Hanoi absolviert, doch sprach er mit grauenhaftem laotischen Akzent, und auch sein Wortschatz lie? stark zu wunschen ubrig. Der Doktor bedauerte, den illustren Gasten keine Leichen prasentieren zu konnen, bat sie aber dennoch in den Sektionssaal. Der Pulk schlurfte ihm hinterdrein und stie? auf Dtui, die frisch herausgeputzt und in ihrer wei?esten Tracht vor der Kuhlkammer stand. Sie hatte weder Kosten noch Muhen gescheut und sich sogar eine rosa champa-Blute ins Haar gesteckt. Mit einem zuckersu?en Lacheln auf den Lippen offnete sie die Tur der Kammer wie die Assistentin in einem thailandischen Fernsehquiz.

Die Besucher starrten in die leere Kuhlkammer der leichenlosen Pathologie und fragten sich, was sie hier sollten. Richter Haeng strahlte uber alle vier Backen. Er hatte seine Begeisterung am liebsten laut herausgeschrien, aber ihm kam jemand zuvor. Das markerschutternde Kreischen schien durch die geschlossene Tur des Lagerraums zu dringen. Plotzlich flog die Tur auf, traf einen hochrangigen Polizeibeamten empfindlich an der Schulter, und gab den Blick frei auf ein schier unglaubliches Schauspiel. Die Besucher schnappten horbar nach Luft. Ein dunkelhautiger Mann mutma?lich indischer Herkunft bahnte sich, unrasiert und mit nacktem Oberkorper, einen Weg durch die verangstigten Zuschauer und trat neben den Richter. Ein au?erst knappsitzender Sarong verhullte notdurftig seine Scham, und auf seinem Handteller lag ein offenbar menschliches Gehirn, das auf den blitzblanken Betonfu?boden tropfte. Er offnete den Mund und brach in stummes Gelachter aus.

Genosse Nguyen, der vietnamesische Pathologe, fand als Erster seine Stimme wieder. »Richter Haeng«, sagte er entrustet. »Was hat das zu bedeuten?«

Haengs Miene verriet, dass er den halbnackten Mann erkannt hatte. Was das nicht der Irre, der ziellos durch die Stadt streifte und um Essensreste bettelte? Der notorische Exhibitionist, der bereits wiederholt aufgegriffen worden war und mehrere Nachte hinter Gittern verbracht hatte? Wie nannten sie ihn noch gleich? Genau, den Verruckten Rajid. Was suchte der hier im Leichenschauhaus?

»Siri, was hat das zu bedeuten?«, wollte Haeng wissen.

»Meine Herren, ich glaube, ich schulde Ihnen eine Erklarung«, sagte Siri. »Sie mussen den Aufzug unseres neuen Pathologieassistenten entschuldigen.«

»Neuer Pathologie…?«, stammelte der Richter. Er rang sich ein gequaltes Lachen ab, um den Eindruck zu erwecken, er habe von Anfang an von diesem Scherz gewusst. Siri hievte sich auf den Sektionstisch und richtete das Wort an die Besucher.

»Sehen Sie«, sagte er, »Herr Rajid war als Einziger bereit, fur das halbe Gehalt zu arbeiten, das man uns fur diesen Posten zugesteht.« Rajid hatte sich auf dem Fu?boden niedergelassen und brachte das Gehirn wie Knetgummi in die Form eines Pilzes.

»Ich glaube kaum …«, begann Haeng, brachte jedoch beim besten Willen keinen leidlich souveranen Satz auf Vietnamesisch zustande, mit dem er seinen Kopf aus der Schlinge hatte ziehen konnen.

Siri fuhr fort: »Wir hatten einen uberaus kompetenten – um nicht zu sagen brillanten – Assistenten, der sich mit Freuden fur einen Hungerlohn verdingte. Er hatte mehr Berufserfahrung als ich und Schwester Dtui zusammen.«

»Was ist aus ihm geworden?«, fragte Nguyen. Die anderen Delegierten waren fasziniert naher getreten. Zum ersten Mal seit ihrer Anreise bekamen sie etwas Authentisches geboten.

»Nun ja, er hatte gewiss gute Grunde, aber Richter Hae… – ich meine, das Justizministerium – hat ihn entlassen.«

»Ich habe ihn nicht entlas…«, versuchte Haeng zu widersprechen. Sein Lacheln schwand dahin.

»Warum?«, fragte Nguyen. »Warum haben Sie einen tadellosen Assistenten entlassen?«

»Weil …« Siri machte eine Kunstpause. »Weil er am Down-Syndrom leidet.«

Ein Raunen ging durch die Reihen.

»Sie haben einen Mann entlassen, weil er mongoloid ist?«, fragte der Delegationsleiter mit unglaubiger Miene. Er hatte vermutlich ebenso gehandelt – wahrscheinlich hatte keiner der anwesenden Wurdentrager den Behinder ten uberhaupt erst eingestellt -, aber gruppendynamische Prozesse wirken bisweilen Wunder.

»Ich … ich habe ihn nicht entlassen«, sagte Haeng. »Ich habe ihn … versetzt.«

»Warum?«, fragte Nguyen. »Hat er dem sozialistischen Staat etwa nicht treu gedient? Und einen wertvollen Beitrag fur die Gemeinschaft geleistet?«

»O doch«, antwortete Siri.

Rajid hatte sich das Gehirn wie einen Hut auf den Kopf gesetzt. Einer der Generale musterte ihn angewidert und wandte sich dann an Siri. »Konnen wir mit dem Idioten sprechen – und uns selbst ein Bild machen?«

»Ich furchte, nein«, sagte Siri. Der Doktor und Dtui lie?en den Kopf hangen. »Sehen Sie, er wurde von bewaffneten Soldaten in den Norden, nach Luang Prabang verschleppt. Aber seine Loyalitat und die Liebe zu seiner Arbeit und den damit verbundenen Verpflichtungen waren so gro?, dass er die Flucht ergriff und sich zu Fu? – jawohl, Genossen, zu Fu? – auf den Ruckweg hierher, in dieses Leichenschauhaus machte. Zehn lange Tage marschierte er unter der sengenden Sonne vor sich hin« – ein Schluchzen drang von der Kuhlkammer heruber – »und legte dabei eine Strecke von sage und schreibe vierhundertachtzig Kilometern zuruck. Aber wie Sie sich sicher vorstellen konnen, schwachte ihn die Reise, und nicht nur das, er infizierte sich au?erdem mit Denguefieber. Als er hier ankam, war er so gut wie tot. Er brach gleich hinter Ihnen zusammen.«

Alle drehten sich um, als wurde der Arme immer noch dort liegen. Siri benutzte die Gelegenheit, um verstohlen zu Haeng zu blicken, der die Zahne so fest zusammenbiss, als seien sie verschwei?t. Die Delegation wandte sich wieder um und sah, dass Tranen uber die runden Wangen der jungen Krankenschwester liefen.

»Er ist tot?«, fragte jemand.

»Nein«, antwortete Siri. »Aber sein Leben hangt am seidenen Faden.« Die Vietnamesen durchbohrten Haeng, der entblo?t und hilflos neben ihm stand, mit wutenden Blicken. Siri rechnete mit wenigstens einem letzten

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