Politburos waren mit ihren Frauen angereist, unter ihnen auch Civilai und seine Lebensgefahrtin, das reizende Fraulein Nong. Ein Kordon uniformierter Soldaten trennte die Ehrengaste vom gemeinen Volk im hinteren Teil des Saales, wo Siri in einer der letzten Reihen sa? und Dtui einen Stuhl freihielt.

Als Platzanweiser fungierten ehemals hochrangige Offiziere der royalistischen Armee. Nach fast zwei Jahren Umerziehung galten sie als einigerma?en vertrauenswurdig. Sie trugen geborgte Hemden und Krawatten und machten eine gekrankte Miene. Dabei konnte man ihre heutige Aufgabe – gemessen an ihren Erlebnissen im Dschungel – schwerlich als Demutigung bezeichnen. Kaum einer von ihnen wusste, dass ihr Konig und ihre Konigin ebenfalls im »Exil« weilten, und es interessierte sie auch nicht.

Mit gebuhrender Verspatung betraten der Prasident, der Premierminister und die Leiter der vietnamesischen Delegation den Saal, begleitet vom donnernden Applaus des Publikums. Sie drehten sich um und erwiderten den Beifall, bevor sie sich auf den Sofas und Sesseln in der ersten Reihe niederlie?en. Wie bei allen gro?en und kleinen Veranstaltungen in der Volksrepublik Laos mussten die Zuhorer zunachst eine unertraglich lange und langweilige Rede uber sich ergehen lassen, in der samtliche Revolutionare sowie deren Vater und Gro?vater gewurdigt wurden. Dtui traf gegen Ende der Ansprache ein.

»Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr«, sagte Siri, ohne die Stimme zu dampfen. Die meisten Leute auf den billigen Platzen plauderten ausgelassen miteinander. Um des laotischen Publikums Herr zu werden, waren sozialistische Verstarkeranlagen mit besonders leistungsfahigen Lautsprechern ausgestattet.

»Ich musste nur noch rasch zwei traumatische Erlebnisse hinter mich bringen«, erklarte sie.

»Sie haben sich mit Lit getroffen?«

»Das war das erste. Er machte eigentlich nicht den Eindruck, als ob ich ihm das Herz gebrochen hatte. Ich habe wohl eher seine Lebensplanung durcheinandergebracht. Verstehen Sie? Ehrlich gesagt, hatte ich das Gefuhl, dass dem werten Genossen bei unserer kleinen Vorstellung heute Morgen der eine oder andere Zweifel gekommen ist, ob ich tatsachlich die Richtige fur ihn bin.«

»Er wei? doch, dass Sie mit dem ganzen Schwindel nichts zu tun hatten.«

»Ja, aber ihm ist wohl nicht entgangen, dass ich auch nicht sonderlich erstaunt war. Ich bin schlie?lich nicht kreischend in Ohnmacht gefallen. Vielleicht erwartet er das von einer Frau. Die ganze Geschichte scheint ihn ziemlich mitgenommen zu haben. Er hat mich jedenfalls nicht gebeten, meine Entscheidung noch einmal zu uberdenken.«

»Umso besser. Ihr Entschluss stand schlie?lich felsenfest.«

»Ja. Trotzdem ware es nett gewesen, einen Verehrer zu haben. Ich hatte mit ihm tanzen gehen und ihn den Madels vorfuhren konnen. Au?erdem hatte ich ihn gern meiner Mutter vorgestellt.«

Eine versehentliche Ruckkopplung schrillte durch den Saal. Beschamt verstummten die Zuschauer.

»Und haben Sie mit Ihrer Mutter gesprochen?«, flusterte Siri.

»Ja. Das war der zweite Schock.«

»Um Gottes willen. Warum?«

»Sie hat mir einen Brief vorgelesen.«

»Schlechte Nachrichten?«

»Das wei? ich noch nicht genau.«

»Aber sie haben Ihnen einen Schock versetzt?«

»Ich bin vor Schreck fast gestorben.«

»Wollen Sie mir vielleicht verraten, was in dem Brief stand?«

Eine Prozession von rosa und gelb gewandeten Musikern betrat den Saal und verschwand samt Instrumenten im Orchestergraben. Es war eine Schande, dass man ihre wunderschonen Kostume nur ein paar Sekunden lang zu sehen bekam. Kurz darauf stiegen auch schon die ersten Tone aus dem Graben auf und wurden von dem ausgeklugelten Lautsprechersystem bis unter die gewolbte Decke getragen. Die ganze Hohle vibrierte. Die naturliche Akustik, ohne elektronische Verstarkung, hatte einen ungleich angenehmeren Klang produziert. Siri spurte Dtuis warmen Atem, als sie ihm ins Ohr brullte.

»Er war vom Prufungsausschuss.«

»Und?«

»Ich soll im Dezember in die UdSSR fliegen.«

»Sie haben bestanden?« Die Ouverture gelangte unvermittelt an ihr Ende, und Siris Freudenschrei zerriss die Stille. Einige Parteibonzen wandten den Kopf, aber das gemeine Volk lachte und bedachte das unsichtbare Orchester mit sturmischem Beifall. Siri genierte sich nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Am liebsten ware er auf die Buhne gesturmt und hatte es offentlich verkundet. Er kusste Dtui auf die Wange und hielt bis zum Schluss des Konzerts breit grinsend ihre Hand.

Die Veranstaltung dauerte bis in die Nacht. Wunderschone vietnamesische Ballerinen in Armeeuniform drehten auf Turnschuhen Pirouetten. Akrobaten stellten mit Stuhlen schier unglaubliche Dinge an. Ein Madchen balancierte kopfuber auf einem Esel, der im Kreis lief und auf ein Stromkabel pisste, das daraufhin zu qualmen anfing. Ein kleiner Engelschor mit roten Halstuchern und Baretten schmetterte Parteilieder, die Ballerinen kamen noch einmal auf die Buhne und vollfuhrten einen mitrei?enden Tanz mit Gewehren, und ein nordvietnamesischer Popstar sang eine romantische Ballade, die dem alten Mann die Tranen in die Augen trieb.

Die letzte Nummer des Abends war ein laotischer ramwong -Tanz, der sich von der Buhne in den Saal hinunterschlangelte, wo sich Zuschauer um Zuschauer in den Zug der Tanzenden einreihte. Civilai sprang als einer der Ersten auf. Er winkte, als er Siri erblickte, der instandig hoffte, dass sein Freund seine Federboa in Vientiane gelassen hatte. Da den Zuschauern hinter der Militarabsperrung die Teilnahme an der bizarren Polonaise verboten war, blieben sie einfach, wo sie waren, und tanzten auf der Stelle. Dtui und Siri sahen einander an, wippten im Rhythmus der Musik und ahmten sich gegenseitig nach.

Hinter ihr, im Schatten der Nebenhohlen, in den Ecken und Winkeln, sah Siri, wie die Verstorbenen zusammenstromten. Sie warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren. Nachdem die alten Manner zu Bett gegangen waren, sollte eine offizielle Party fur alle Jungen und Junggebliebenen stattfinden. Aus gegebenem Anlass durfte die laotische Jugend bis in die fruhen Morgenstunden tanzen. Obwohl die Feiernden nichts davon ahnten, wusste Siri, dass die Geister sich die Chance, mit den Lebenden eine kesse Sohle aufs Parkett zu legen, um keinen Preis der Welt wurden entgehen lassen.

Da Civilai fur moderne Musik wenig ubrighatte, flog er gleich nach dem Konzert mit den anderen Partymuffeln nach Vientiane zuruck. Im Hubschrauber war noch Platz, und so nahm er Siri und Dtui einfach mit. Trotz des Rotorenlarms genoss Civilai den Flug, weil er sich die Ereignisse der vergangenen zehn Tage von Siri ins Ohr brullen lie?. Inzwischen fristete er ein derart odes, eintoniges Dasein, dass Siris wundersame Geschichte auf ihn regelrecht belebend wirkte.

»Warum haben die Vietnamesen Isandro nicht gefunden, als sie die Leiche des Madchens entdeckten?«, fragte Civilai und stie? damit zielsicher in eine der wenigen Lucken in Siris Beweisfuhrung.

»Ich nehme an, Odon begrub erst seinen Freund und tarnte das Grab, damit es nicht entdeckt wurde, bevor das Ritual vollzogen war. Als er mit Hong Lan dann ebenso verfahren wollte, kamen ihm die Soldaten dazwischen.«

»Willst du die Sache nicht lieber der Polizei ubergeben? Du hast doch genugend Beweise gegen die vietnamesische Miliz und den Spaher wegen des Mordes an Odon?«

»Ich furchte, die Armee wird das Problem auf ihre Weise losen.«

»Wie es so ihre Art ist.« Damit war eigentlich alles klar. Blieb nur eine Frage, und Civilai wusste, dass die Antwort auf blo?en Vermutungen beruhte. »Hast du eine Ahnung, wie das Paar gestorben ist?«

»Dazu waren die beiden Leichen schon zu stark verwest. Das Madchen ist wahrscheinlich an ihrer Krankheit gestorben. Falls sie doch noch am Leben war, haben die beiden vermutlich Gift getrunken, als sie in der Hohle ankamen. Es handelte sich schlie?lich um einen Liebespakt.«

»Und du glaubst im Ernst, der ganze Hokuspokus hat gewirkt, und ihre Seelen sind im Jenseits vereint?«

Siri dachte an den verschlossenen Schrank und an die Kreatur zuruck, die er befreit hatte. »Ich wei? es nicht. Aber die Vorstellung gefallt mir.«

»Nach all den Jahren bist du noch immer ein Romantiker.«

»Wenn man in unser Alter kommt, alterer Bruder, wunscht man sich, man hatte der romantischen Liebe etwas mehr Zeit gewidmet, als man noch die Gelegenheit dazu hatte.«

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