zugeschrieben«, sagte er. »Ich habe sie nicht gemeldet, aus Angst vor der Reaktion meiner Vorgesetzten und nicht zuletzt aus Angst vor ihm. Meinen Sie, er hat auch etwas mit Oberst Has Tod zu tun? Anders kann ich mir dessen Reaktion auf den Hinterhalt nicht erklaren.«

»Ist ein Gerucht erst einmal in die Welt gesetzt, entwickelt es rasch ein Eigenleben, junger Mann«, antwortete Siri. »Die Nachricht von der Krankheit seiner Tochter hatte den Oberst so schwer getroffen, dass er sich mit Opium daruber hinwegzutrosten versuchte. Ich furchte, zum Zeitpunkt des Hinterhalts war er auf Grund seines Kummers und seines Drogenkonsums au?er Stande, die Situation richtig einzuschatzen. Sein Bursche war der Ansicht, der Oberst sei nicht diensttauglich gewesen. Von Rechts wegen hatte er die Streife eigentlich gar nicht begleiten durfen. Aber mit Hexerei hatte seine Reaktion nichts zu tun. Das Rauschgift hatte seine Sinne verwirrt.«

»Dann war also auch Isandro und Odons letzte Hoffnung nichts weiter als eine Fata Morgana. Auch sie waren einer Tauschung aufgesessen.«

»Ja und nein. Santiago weigerte sich, die Zeremonie zu vollziehen, weil er wusste, dass er nicht mit dem erhofften Resultat wurde aufwarten konnen. Indem er Odon die Verantwortung ubertrug, nahm er den Druck von seinen Schultern. Verstehen Sie? Dr. Santiago glaubt von ganzem Herzen an seine Magie. Er muss furchtbar enttauscht gewesen sein, als er merkte, dass er damit nichts ausrichten konnte. Aber ich spure – und vielleicht spurte er es ja auch -, dass Odon weitaus mehr Talent besa?. Er hoffte wohl, auf indirektem Wege doch noch zum Erfolg gelangen zu konnen, wenn er Odon das Ritual vollziehen lie?.«

»Wollen Sie damit sagen, Odon war ein Schamane?«

»Nein, nur dass er vermutlich uber mediale Fahigkeiten verfugte. Er glaubte fest daran, dass der ganze Hokuspokus funktionieren wurde und sein Freund und dessen Geliebte tatsachlich vereint in die Ewigkeit eingehen konnten. Das machte ihn fur die Geister zu einem attraktiven Werkzeug.«

»Glauben Sie, es hat geklappt?«

Siri dachte an seinen ersten Besuch in der Prasidentenhohle, an den Schrank und den Schatten der geheimnisvollen Fledermaus zuruck. »Moglich ware es«, sagte er. »Vielleicht ist der Doktor ja ausnahmsweise einmal auf die richtige Formel gesto?en.«

»Dann soll ich ihm sagen, sein Zauber hatte funktioniert?«, fragte Dtui.

»Um Himmels willen, nein. Wir durfen ihn unter keinen Umstanden in seinem Glauben bestarken, dass er tatsachlich die Fahigkeit besitzt, Menschen in die Ewigkeit zu schicken. Je gebremster sein Eifer, desto besser. Ich habe das dumpfe Gefuhl, dass Dr. Santiago in Kurze von seinem Posten entbunden werden konnte. Von Civilai wei? ich, dass die kubanische Botschaft sich brennend fur sein Interesse an der schwarzen Magie interessiert. Er tritt vermutlich schon in den nachsten Tagen die Heimreise an.«

Dtui musterte den alten Kubaner, der nach wie vor vergeblich nach einem Zauber suchte, um sich die ungebetenen Gaste vom Hals zu schaffen. »Gut, eine letzte Frage«, sagte sie. »Angenommen, die Zeremonie hatte den gewunschten Erfolg, und Isandro und Hong Lan sitzen jetzt glucklich vereint unter einem Bobaum irgendwo im Himmel und schlurfen ein Flaschchen prickelnden Nirwananektar. Warum gibt Odons Geist dann noch immer keine Ruhe?

»Ah, ja. Gute Frage«, meinte Siri. »Anfangs dachte ich, sein Geist suchte lediglich einen knackigen, makellosen Korper, in dem er die Nachte durchtanzen konnte. Weshalb seine Wahl naturgema? auf mich fiel. Dann fragte ich mich, was ihn derart aufgebracht hatte. Die Antwort darauf gab mir der Hmong-Spaher, der den Uberfall in der besagten Nacht anfuhrte. Ein interessanter alter Knabe. Ein echter Exzentriker. Er tragt die Nagel seiner kleinen Finger traditionell lang und lackiert.«

»Der Fingernagel im Grab der Mumie?«

»Genau. Aber das habe ich nicht weiter verfolgt. Er erzahlte mir, dass der Uberfalltrupp in der Nacht, als der Arbeiter seine Begegnung mit den beiden Kubanern meldete, langst zum Angriff bereitstand.«

»Wie das?«, wollte Lit wissen.

Diesmal beantwortete Dtui seine Frage. »Sie hatten einen Tipp bekommen.«

»Dreimal durfen Sie raten, von wem«, setzte Siri hinzu. »Santiago wollte die Zeremonie so schnell wie moglich vollziehen. Er war neugierig. Aber er befurchtete auch, dass Odon ihn hinterher erpressen konnte. Oder dass sich herumsprechen wurde, dass er, der gro?e Arzt und Magier, ein Schwindler war. Er rechnete wohl nicht damit, dass die vietnamesischen Soldaten Odon umbringen wurden. Oder es war ihm egal. Jedenfalls streute er nach dem gewaltsamen Ableben des jungen Mannes jede Menge Indizien, die den Schluss nahelegten, dass Odon der Palo-Priester gewesen war.«

»Und Odons Geist wei? das und sinnt auf Rache«, sagte Dtui.

»Da bleibt nur eins«, befand Siri. Er trat vor den Schreibtisch und lachelte Santiago an. Der Kubaner schien sich von seinem Schock erholt zu haben und war offenbar wieder obenauf. »Wurden Sie dem guten Doktor bitte sagen, dass wir alles wissen? Nicht, dass ich seine Machenschaften guthei?en wurde, aber ich habe nach wie vor den gro?ten Respekt vor seinen Fahigkeiten als Chirurg. Ich bedauere sehr, dass er seinen Beruf nach Abschluss dieser Angelegenheit wohl nicht mehr wird ausuben konnen, wunsche ihm aber dennoch alles Gute fur die Zukunft.«

Wahrend Dtui ubersetzte, reichte Siri dem Kubaner die Hand und bedachte ihn mit einem herzlichen Lacheln. Santiago schlug ein und erwiderte das Lacheln. Zunachst schien er erstaunt uber Siris festen Handedruck. Dann dammerte es ihm.

Der Kubaner schrie und versuchte vergeblich, seine Hand zuruckzuziehen. Eine Kraft ging von Siri auf Santiago uber. Dtui sah, wie der Kubaner sich auf seinem Stuhl wand und krummte. Dann richtete er sich langsam zu voller Gro?e auf, und sein Gesicht wirkte irgendwie junger als zuvor. Als Siri schlie?lich seine Hand loslie?, schien ein anderer Mensch am Schreibtisch zu sitzen.

Auch Genosse Lit hatte die Verwandlung bemerkt. »Dr. Siri, darf ich fragen, was gerade passiert ist?«

Nach allem, was der Sicherheitschef mit angehort hatte, hielt Siri es fur sinnlos, ihn weiter im Unklaren zu lassen. »Genosse Lit, in der vergangenen Woche hat der Geist Odons in meinem Korper gewohnt. Er fuhr an Santiagos Altar in mich. Damals dachte ich, er wolle sich an Schwester Dtui vergehen, aber wie sich herausstellte, richtete sich seine Wut gegen Santiago. Darauf hatte ich eigentlich schon viel fruher kommen konnen.«

»Worauf? Dass ein Geist, der etwas auf sich halt, nie und nimmer uber meine su?e kleine Wenigkeit herfallen wurde?«, fragte Dtui. Da sie sich dem alten Kubaner gegenuber nicht langer zur Hoflichkeit verpflichtet fuhlte, hatte sie das Ubersetzen aufgegeben.

»Dass es dafur keinen logischen Grund gab«, sagte Siri. »Geister gehen im Allgemeinen logisch vor. Odon wollte seinen Namen und den seines Freundes reinwaschen, weil der Ruf eines Menschen seinen Tod uberdauert. Und um uns auf die richtige Fahrte zu fuhren. Jetzt hat er den Korper des Mannes in Besitz genommen, der seinen Tod verschuldet hat.«

»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Lit.

»Ach, ich denke, die tatige Mithilfe des Doktors durfte Ihnen sicher sein. Vielleicht legt er sogar das eine oder andere Gestandnis ab. Sie sollten ihn uber Nacht in eine Zelle stecken und morgen ein wenig mit ihm plaudern, am besten im Beisein der kubanischen Delegation. Die Herren werden sich wundern, wenn sie horen, was er zu sagen hat. Sie werden sich vermutlich mit den Familien von Isandro und Odon in Verbindung setzen wollen, um zu klaren, was mit den Leichen geschehen soll. Unser Politburo wird den Rucktransport bestimmt gern ubernehmen.«

»Sollte Hong Lan nicht gemeinsam mit ihnen bestattet werden?«, fragte Dtui.

»Ich wusste nicht, warum«, erwiderte Siri. »Es geht nur noch um ihren Korper. Ihre Seelen sind bereits vereint.«

20

DIE TANZENDEN TURNSCHUHE

Das Konzert sollte um halb sieben anfangen. Jetzt war es schon fast acht, und Dr. Siri sa? noch immer neben einem leeren Stuhl etwa funfzig Meter von der leeren Buhne entfernt. Die ersten sechsundzwanzig Reihen begannen sich eben zu fullen, und er hatte einen herrlichen Blick auf die Hinterkopfe beruhmter Laoten und andere, vermutlich ebenso beruhmte Kopfe aus befreundeten kommunistischen Landern. Die Mitglieder des

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