was in der fraglichen Nacht passierte.«

Santiago hielt erschrocken inne. Er war damit beschaftigt gewesen, den Deckel der Teekiste moglichst unbemerkt zu offnen. Trotzdem willigte er ein, die Geheimnisse der Zeremonie preiszugeben. Es wunderte Siri, dass er diese mutma?lich streng geheimen Informationen so bereitwillig weitergab. Doch der Kubaner lie? kein noch so nebensachliches Detail aus und schopfte mit sichtlichem Stolz aus dem reichen Schatz seines Wissens. Wie es schien, mussten die Herzen der Liebenden frisch sein, damit das Ritual seine Wirkung tun konnte. Am besten sei es, wenn die noch schlagenden Herzen bei lebendigem Leib herausgeschnitten wurden, aber das sei den meisten Leuten etwas zu blutig. In jedem Falle musse man die Leichen nach dem Exitus so lange wie moglich frisch halten.

»Daher das nasse Grab«, folgerte Siri. »Aber warum?«

Santiago erklarte Dtui, dass das Paar in der Ewigkeit genau so aussehe wie zu dem Zeitpunkt, da die Verschmelzung ihrer Seelen vollzogen worden sei. Und da selbst die Untoten so etwas wie asthetisches Empfinden besa?en, sahen sie es ungern, wenn der oder die Geliebte sich im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung befindet.

In den drei Nachten vor der Zeremonie ruhrt der Priester eine spezielle Paste an. Nur die allerbesten Priester kennen die erforderlichen Zutaten und Beschworungsformeln. Der Kubaner prahlte mit seinen Fahigkeiten und nannte sich einen fuhrenden Vertreter der schwarzen Kunst.

Siri unterbrach Dtui in ihrer Ubersetzung. »Bitte danken Sie dem Doktor fur seine Werbung in eigener Sache. Aber es ware nett, wenn er auf die fragliche Nacht zuruckkommen konnte.«

Santiago lachte.

»Was ist denn so komisch?«, wollte Lit von Dtui wissen.

Sie wand sich auf ihrem Stuhl, bevor sie ihm eine Antwort gab. »Er sagt, er konne uns alles verraten, was wir wissen wollen, weil …«

»Weil?«

»Weil wir drei uns an dieses Zusammentreffen ohnehin nicht erinnern werden. Er sagt, morgen fruh bei Sonnenaufgang werden wir nicht einmal mehr wissen, wer wir sind.« Dtui und Lit machte diese Ankundigung sichtlich Angst. Nur Siri konnte ihr etwas Komisches abgewinnen.

»Darauf freue ich mich jetzt schon«, sagte er unwirsch. »Aber dieses kleine Kunststuck haben Civilai und ich schon tausend Mal fertiggebracht. Mit einer Flasche Reiswhisky ist das wahrhaftig kein Problem. Und nun zur Zeremonie.«

Santiago gratulierte dem Doktor zu seiner Kaltschnauzigkeit angesichts des grausigen Endes, das er in Kurze nehmen werde. Er erklarte sich bereit, das Ritual in allen Einzelheiten zu schildern. Der Priester, sagte er, entnimmt den Liebenden das Herz. Dann schneidet er es auf dem Altar in kleine Stucke und vermischt diese in einem Morser mit der heiligen Paste. Dabei skandiert er immer wieder die entsprechende Beschworungsformel, immer wieder, bis er in eine tiefe Trance fallt. Er nimmt nichts mehr wahr, au?er den Handlungen, die es zu vollziehen gilt. Auf dem Altar, demselben Altar, auf dem er die Herzen zerkleinert hat, modelliert er aus der Paste nun einen Vogel. Einen fliegenden Vogel. Der Priester braucht kein gro?er Kunstler zu sein. Der grobe Umriss eines Vogels genugt vollauf. Dann wird der Vogel verhullt. Niemand darf ihn sehen oder gar beruhren, damit er ein Eigenleben entwickeln und in die Ewigkeit davonfliegen kann. Dann werden die Liebenden fur immer eins sein.

»Und wie lange dauert dieser Vorgang?«, fragte Siri.

Santiago uberlegte einen Augenblick. Das sei schwer zu sagen. Wochen? Monate? Manchmal sogar Jahre. Und manchmal klappe es uberhaupt nicht. Das hange allein von der Willensstarke der Liebenden ab. Dann setzte Santiago seufzend seine Brille ab, als habe er genug gesagt. Plotzlich war er wie ausgewechselt. Er nahm die Teekiste aus der Schublade und stellte sie vor sich auf den Schreibtisch. Mit schroffer Stimme und blutunterlaufenen Augen knurrte er seine Gaste an.

Ein Zittern schlich sich in Dtuis Stimme. »Er … er sagt, es habe ihn sehr gefreut, aber jetzt mussten wir leider gehen.« Sie fiel aus ihrer Dolmetscherrolle. »Doc, die Sache ist mir irgendwie nicht ganz geheuer. Ich finde, wir sollten schnellstens …«

Bevor sie ihre Warnung zu Ende bringen konnte, hatte Santiago die Kiste mit der linken Hand ergriffen und schwang sie in hohem Bogen durch die Luft. Eine Wolke grauen Pulvers hullte die drei Gaste ein. Der Geruch toter Tiere und der Gestank verdorbener Gewurze stieg ihnen in die Nase. Ein lang gedehnter, wutender Singsang drang zwischen den nikotingelben Zahnen des Kubaners hervor. Obwohl das Pulver ihnen in den Augen brannte, sahen sie, wie Santiago sich rucklings gegen die Wand presste und die Arme einem unsichtbaren Gott entgegenreckte.

Dtui hatte eigentlich erwartet, dass ihr Horner sprie?en, ihre Haut hassliche Blasen werfen und sie ein Gefuhl des Grauens uberkommen wurde, musste aber lediglich heftig niesen. Auch Lit nieste. Siri tauchte aus der Wolke auf. Er hielt sich Mund und Nase zu und starrte den Kubaner an, der jetzt hinter seinem Schreibtisch auf dem Boden lag.

»Sie konnen ihm sagen, dass er mit diesem Unfug aufhoren soll, Dtui. Es hat nicht funktioniert«, sagte Siri.

»Aber warum nicht?«, fragte Lit, zog die Pistole aus seinem Gurtel und richtete sie auf den verwirrten Kubaner.

»Weil es noch nie funktioniert hat«, erklarte Siri. »Unser guter Dr. Santiago ist namlich ein Schwindler – ein Scharlatan. Er ist nur in seiner Einbildung der gro?e Endoke-Hohepriester. Mit seinem Hokuspokus konnte er noch nicht einmal eine Flasche Lao-Bier zum Schaumen bringen.«

»Aber das ist unmoglich. Sie haben doch selbst gesagt, die Kubaner hatten ihn ausgewiesen, weil …«

»Weil er ihnen auf die Nerven ging und nicht etwa wegen seiner angeblichen Zauberkrafte. Sie hielten ihn schlicht fur verruckt. Seine Experimente wirkten sich negativ auf seine Arbeit aus. Niemand stellt einen Chirurgen ein, und sei er noch so talentiert, der allen Ernstes glaubt, dass die bosen Geister ihm das Skalpell fuhren. Dtui, wurden Sie ihm bitte auf die Beine helfen, bevor er Gelenkstarre bekommt?«

Dtui half dem Doktor auf seinen Stuhl zuruck. Er murmelte noch immer einen alten Hexenfluch und konnte es nicht fassen, dass seine potenziellen Opfer nach wie vor bei klarem Bewusstsein waren.

»Ich will gar nicht leugnen, dass er die schwarze Kunst studiert hat«, fuhr Siri fort. »Im Gegenteil. Er ist vermutlich sogar ein veritabler Experte fur die Riten und Rituale von Santeria und Palo Mayombe. Aber es kann sich nun einmal nicht jeder hergelaufene Jose zum Gro?magier stilisieren, ebenso wenig wie ich mich mir nichts, dir nichts zum Mr. Universum ernennen kann. Dazu braucht es schon ein wenig mehr. Namlich eine unmittelbare Verbindung zur Geisterwelt. Und damit kann der gute Santiago, trotz seines nicht mehr ganz jugendlichen Eifers, leider nicht dienen.«

Da ihm Siris Worte niemand ubersetzte, sa? der Kubaner mit ratloser Miene an seinem Schreibtisch.

Lit stand kopfschuttelnd auf. »Aber das … das kann nicht sein. Was ist hiermit?« Er hob seinen Finger, der sich leblos krummte wie ein aufgespie?tes Insekt. Siri trat vor den riesigen Kuhlschrank und offnete die Tur, worauf Tausende von ordentlich aufgereihten Petrischalen zum Vorschein kamen.

»Genosse Lit, wenn es einem Menschen nicht gegeben ist, Wunder zu vollbringen – und diese Fahigkeit ist den wenigsten unserer Mitmenschen zu eigen -, muss er notgedrungen auf Tauschungsmanover und Taschenspielertricks zuruckgreifen. Nachdem feststand, dass unser Freund hier ein Betruger ist, brauchte ich nur die Tricks Revue passieren zu lassen, mit denen er die vermeintlichen Wunder erklarte. Einige waren schlicht erfunden. Fur andere gibt es eine rationale Erklarung. Nehmen wir zum Beispiel seinen sogenannten Liebestrank, mit dem er die junge Krankenschwester in sein Bett lockte. Sie folgte jedoch mitnichten einem Fluch. Vielmehr hatte er sie beim Diebstahl von Medikamenten erwischt, die sie nach Hause schicken wollte, in ihr Dorf. Ihre Liebesdienste waren der Preis fur sein Stillschweigen. Simple Erpressung.

Viele seiner anderen Zaubereien lassen sich wissenschaftlich leicht erklaren. Er ist namlich unter anderem ein brillanter Chemiker. Ich habe versucht dahinterzukommen, wie er Ihren Finger zum Atrophieren brachte. Da Sie alle in derselben Hohle einquartiert waren, hat er Sie wahrscheinlich mit irgendeinem Virus infiziert. Wie Sie sehen, verfugt er uber eine reichhaltige Sammlung von Kulturen. Er konnte ohne Weiteres nachts zu Ihrer Koje schleichen und Sie mit einem kontaminierten Praparat in Beruhrung bringen.«

Genosse Lit war wie vor den Kopf geschlagen. Hatte man ihn tatsachlich wie einen naiven Dorfbewohner hinters Licht gefuhrt?

»Ich habe samtliche merkwurdigen Ereignisse der letzten Zeit Santiago und dem Ubernaturlichen

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