»Es ist davon auszugehen, dass in den kommenden funfzig bis hundert Jahren eine neue Kategorie von Organismen entstehen wird. Diese Organismen werden insofern kunstlich sein, als sie ursprunglich von Menschen entworfen wurden. Sie werden sich jedoch vermehren und ihre ursprungliche Form >evolutionar< verandern; sie werden entsprechend jeder vernunftigen Definition des Wortes >lebendig< sein [...]. Das Tempo des evolutionaren Wandels wird extrem hoch sein [...]. Die Auswirkungen fur die Menschheit und die Biosphare konnten ungeheuer sein, gro?er als die der industriellen Revolution, der Atomwaffen oder der Umweltverschmutzung. Wir mussen jetzt Ma?nahmen ergreifen, um die Entstehung kunstlicher Organismen zu steuern.«

Doyne J. Farmer und Alletta d'A. Belin

»Viele Menschen, mich eingeschlossen, haben ein ungutes Gefuhl, wenn sie an die Folgen dieser Technologie fur die Zukunft denken. Das Ausma? der moglichen Veranderungen ist gewaltig, und es besteht die gro?e Gefahr, dass die Gesellschaft ohne ausreichende Vorbereitung nur sehr schlecht damit umgehen wird.«

K. Eric Drexler

EINFUHRUNG:

Kunstliche Evolution im 21. Jahrhundert

Die Vorstellung von der fortwahrenden Entwicklung der Welt ist ein Gemeinplatz, und nur selten machen wir uns seine volle Tragweite bewusst. Fur gewohnlich denken wir dabei zum Beispiel nicht an eine epidemische Krankheit, die ihren Charakter verandert, wahrend sich die Epidemie ausbreitet. Ebenso wenig stellen wir uns vor, dass sich Evolution an Pflanzen und Tieren binnen Tagen oder Wochen vollzieht, aber dem ist so. Und normalerweise betrachten wir die grune Welt um uns herum nicht als den Schauplatz eines immer wahrenden Krieges mit hochkomplizierten chemischen Waffen, wo Pflanzen Pestizide produzieren, wenn sie von Insekten angegriffen werden, die ihrerseits Widerstandsformen entwickeln. Aber genau das ist der Fall.

Wenn wir die wahre Natur der Natur erfassen, die wahre Bedeutung von Evolution begreifen konnten, dann wurden wir uns eine Welt vorstellen, auf der sich jede Pflanzen-, Insekten-und Tierart von Augenblick zu Augenblick verandert, weil sie auf alle anderen Pflanzen-, Insekten- und Tierarten reagiert. Ganze Populationen von Organismen entstehen und vergehen, bewegen und verandern sich. Dieser rastlose und unaufhorliche Wandel, so unerbittlich und unaufhaltsam wie Meereswellen und Gezeiten, impliziert eine Welt, in der alles menschliche Handeln zwangslaufig unberechenbare Folgen hat. Jenes Gesamtsystem, das wir Biosphare nennen, ist derart kompliziert, dass wir im Voraus nicht wissen konnen, welche Auswir-kungen unser Tun haben wird, niemals Veranderungen auch nur ansatzweise voraussagen werden konnen. [1]

Deshalb haben in der Vergangenheit selbst unsere bestgemeinten Bemuhungen unerwunschte Folgen gehabt; entweder weil wir zu naiv waren oder weil diese sich kontinuierlich wandelnde Welt unberechenbare Reaktionen auf unser Handeln zeigte. So gesehen, ist die Geschichte des Umweltschutzes ebenso entmutigend wie die Geschichte der Umweltverschmutzung. Wer zum Beispiel behauptet, das industrielle Abholzen der Walder sei schadlicher als okologische Schutzma?nahmen gegen Waldbrande, der ubersieht die Tatsache, dass beides mit gro?er Uberzeugung betrieben wurde und beides den Urwald unwiderruflich verandert hat. Beides liefert gleicherma?en umfassende Beweise fur den sturen Egoismus, der die Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt pragt.

Die Tatsache, dass die Biosphare unvorhersehbar auf unser Tun reagiert, ist kein Argument fur Untatigkeit. Sie ist hingegen ein gewichtiges Argument fur ein behutsames Vorgehen und fur eine skeptische Haltung gegenuber dem, was wir glauben, und dem, was wir tun. Leider hat unsere Spezies in der Vergangenheit diese Behutsamkeit schmerzlich vermissen lassen. Und es ist kaum vorstellbar, dass sich daran in Zukunft etwas andern wird.

Wir glauben zu wissen, was wir tun. Das haben wir schon immer geglaubt. Wir wollen einfach nicht einsehen, dass wir uns in der Vergangenheit geirrt haben und demnach auch in Zukunft irren konnen. Stattdessen schiebt jede Generation fruhere Fehler auf die Unvernunft nicht ganz so kluger Kopfe -und begeht dann erhobenen Hauptes neue Fehler.

Wir sind eine von nur drei Spezies auf unserem Planeten, die von sich behaupten konnen, dass sie sich ihrer selbst bewusst sind[2], doch vielleicht ware Selbsttauschung fur uns Menschen ein bezeichnenderes Charakteristikum.

Irgendwann im einundzwanzigsten Jahrhundert wird unser von Selbsttauschung bestimmter Leichtsinn mit unserer wachsenden technologischen Macht kollidieren. Zu dieser Kollision wird es sicherlich an der Nahtstelle zwischen Nanotechnologie, Biotechnologie und Computertechnologie kommen. Alle drei Bereiche vermogen, sich selbst reproduzierende Einheiten in die Umwelt zu entlassen.

Mit der ersten dieser sich selbst reproduzierenden Einheiten leben wir schon seit einigen Jahren: Computerviren. Und auch mit den Problemen der Biotechnologie machen wir allmahlich immer mehr praktische Erfahrungen. Dass, wie kurzlich bekannt wurde, Gene aus gentechnisch verandertem Mais in gentechnisch nicht verandertem Mais in Mexiko aufgetaucht sind - trotz gesetzlicher Verbote und trotz der Versuche, es zu verhindern -, ist blo? der Anfang eines sicherlich langen und beschwerlichen Weges, diese Technologie unter Kontrolle zu bringen. Gleichzeitig sind die alten Uberzeugungen, Biotechnologie sei grundsatzlich ungefahrlich - Uberzeugungen, die seit den Siebzigerjahren von der gro?en Mehrheit der Biologen verbreitet wurden -, ins Wanken geraten. Seit australische Wissenschaftler im Jahre 2001 unabsichtlich ein ungeheuer todliches Virus entwickelten, nehmen viele Menschen die alten Denkmuster noch einmal kritisch unter die Lupe.[3] Zukunftig werden wir mit dieser Technologie sicherlich nicht mehr so unbeschwert umgehen wie in der Vergangenheit.

Die Nanotechnologie ist die neueste dieser drei Technologien, und in mancher Hinsicht ist sie auch die radikalste. Ihr Ziel ist es, unvorstellbar kleine Maschinen zu bauen, in der Gro?enordnung von einhundert Nanometern, also einem hundert-milliardstel Meter. Solche Maschinen waren etwa tausendmal kleiner als der Durchmesser eines Menschenhaars. Experten prophezeien, dass uns diese winzigen Maschinen alles liefern werden, von Miniaturcomputerelementen uber Krebstherapien bis hin zu neuen Kriegswaffen.

Als Idee geht die Nanotechnologie auf einen Vortrag zuruck, den Richard Feynman 1959 unter dem Titel »There's Plenty of Room at the Bottom« hielt.[4] Vierzig Jahre spater steckt dieser Forschungsbereich trotz anhaltenden Medieninteresses noch immer gro?tenteils in den Kinderschuhen. Doch inzwischen werden praktische Fortschritte erzielt und deutlich mehr Gelder investiert. Gro?konzerne wie IBM, Fujitsu und Intel stecken immense Summen in die Forschung. In den vergangenen zwei Jahren lie? die US- Regierung eine Milliarde Dollar in die Nanotechnologie flie?en.

Unterdessen werden mit Nanotechniken bereits Sonnenschutzmittel, Flecken abweisende Stoffe und Verbundmaterialien fur Autos hergestellt. Nicht mehr lange, und die Nanotechnologie ermoglicht den Bau von winzigen Computern und Speicherchips.

Und einige der lang erwarteten »Wunderprodukte« sind auch schon auf dem Markt: Im Jahre 2002 stellte ein Unternehmen selbstreinigende Fensterscheiben her; eine andere Firma produzierte einen Wundverband aus Nanokristallen mit anti-biotischen und entzundungshemmenden Eigenschaften.

Zurzeit ist die Nanotechnologie hauptsachlich eine Materialtechnologie, doch ihre Moglichkeiten reichen weit daruber hinaus. Schon seit Jahrzehnten werden Spekulationen uber Maschinen angestellt, die sich selbst reproduzieren konnen. Im Jahre 1980 wurden in einer NASA-Studie mehrere Methoden erortert, mit denen sich solche Maschinen herstellen lie?en. Und vor zehn Jahren beschaftigten sich zwei renommierte Wissenschaftler ernsthaft mit der Materie:

»Es ist davon auszugehen, dass in den kommenden funfzig bis hundert Jahren eine neue Kategorie von Organismen entstehen wird. Diese Organismen werden insofern kunstlich sein, als sie ursprunglich von Menschen entworfen wurden. Sie werden sich jedoch vermehren und ihre ursprungliche Form >evolutionar< verandern; sie werden entsprechend jeder vernunftigen Definition des Wortes >lebendig<

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