In der Zwischenzeit hatte Miguel den bewu?tlosen Angus zum Bus gezerrt. Rafael, der sich nun nicht mehr um Jessica kummern mu?te, sprang heraus und zog seine Pistole, ein Browning Automatic. Er entsicherte sie und drangte Miguel: »La? mich ihn erledigen!«
»Nein, nicht hier!« Die ganze Aktion war unglaublich schnell abgelaufen, kaum eine Minute war vergangen. Miguel stellte erstaunt fest, da? es bis jetzt noch keine Zeugen gegeben hatte. Die beiden Autos hatten ihnen Schutz vor neugierigen Blicken geboten, und Passanten waren in der kurzen Zeit noch nicht aufgetaucht. Miguel, Carlos, Rafael und Luis waren bewaffnet, und im Wagen lag eine Maschinenpistole vom Typ Beretta, fur den Fall, da? sie sich den Weg freischie?en mu?ten. Doch damit war nicht mehr zu rechnen, und das gab ihnen einen guten Vorsprung vor moglichen Verfolgern. Wenn sie aber den alten Mann, der aus seiner Kopfwunde heftig blutete, auf dem Parkplatz zurucklie?en, wurde sofort Alarm ausgelost werden. Kurz entschlossen befahl Miguel: »Rein mit ihm.«
Es dauerte nur Sekunden. Doch beim Einsteigen merkte Miguel, da? er sich in bezug auf mogliche Zeugen getauscht hatte. Eine alte wei?haarige Frau stand, auf einen Stock gestutzt, in etwa zwanzig Metern Entfernung zwischen zwei Autos und sah ihnen zu. Sie schien unsicher und verwirrt.
Als Luis losfuhr, sah auch Rafael die alte Frau. Mit einer schnellen Bewegung packte er die Beretta, hob sie und richtete sie durch das Ruckfenster auf die Zeugin. Doch rief Miguel: »Nein!«. Die Frau war ihm gleichgultig, doch wollte er die Chance, auch jetzt noch ohne gro?es Aufsehen zu entkommen, nicht aufs Spiel setzen. Er schob Rafael zur Seite und rief mit frohlicher Stimme zum Fenster hinaus: »Denken Sie sich nichts. Wir drehen nur einen Film.«
Er sah, wie sich ein erleichtertes Lacheln auf dem Gesicht der alten Frau ausbreitete. Dann lag der Parkplatz bereits hinter ihnen und wenig spater auch die Stadtgrenze von Larchmont. Luis fuhr geschickt und ohne Zeit zu verlieren. Funf Minuten spater rasten sie schon uber den Interstate 95, den New England Thruway, nach Suden.
12
Fruher war Priscilla Rhea einer der hellsten Kopfe in Larchmont gewesen. Als Lehrerin hatte sie einigen Schulergenerationen aus der Umgebung die Grundbegriffe des Wurzelziehens und der quadratischen Gleichungen beigebracht und sie in die Geheimnisse - bei ihr klang das immer wie die Suche nach dem Heiligen Gral - des algebraischen Werts von x und y eingefuhrt. Sie gab ihnen aber auch ein Gefuhl fur Burgerpflicht und soziale Verantwortung mit auf den Weg.
Doch das alles war vor Priscillas Pensionierung vor funfzehn Jahren, bevor Alter und Krankheit zuerst ihrem Korper und dann ihrem Geist Tribut abverlangten. Nun war sie wei?haarig und gebrechlich, ging muhsam am Stock und hatte erst kurzlich voller Abscheu uber ihren Verstand gesagt, er arbeite »mit der Geschwindigkeit eines dreibeinigen Esels, der einen Hugel hinauftrottet«.
Trotzdem strengte sie nun ihren Verstand an, so gut es eben ging.
Sie hatte beobachtet, wie zwei Personen, eine Frau und ein Junge, offensichtlich gegen ihren Willen in eine Art Kleinbus gezerrt wurden. Sie wehrten sich, und Priscilla glaubte, die Frau schreien gehort zu haben; aber sie war sich nicht ganz sicher, da sich, neben allem anderen, auch ihr Gehor verschlechtert hatte. Dann wurde eine dritte Person, ein offensichtlich verletzter und bewu?tloser Mann, in den Bus gezerrt, der daraufhin sofort losfuhr.
Ihre verstandliche Besorgnis uber den Vorfall legte sich wieder, als sie erfuhr, da? alles nur Teil eines Films sei. Das war einleuchtend. Heutzutage schienen die Leute von Film und Fernsehen ja uberall zu sein, sie drehten ihre Geschichten an realen Schauplatzen und interviewten sogar die Leute auf der Stra?e fur die Fernsehnachrichten.
Sobald der Bus losgefahren war, sah sie sich nach den Kameras und den Filmleuten um, die die Szene eigentlich hatten aufnehmen mussen. Aber sie entdeckte niemand, sosehr sie sich auch bemuhte. Wenn wirklich Filmleute dagewesen waren, so uberlegte sie, hatten die gar nicht so schnell verschwinden konnen.
Am liebsten ware es Priscilla gewesen, wenn sie nie auf dieses Problem gesto?en ware. Denn sie wu?te nicht genau, ob sie nicht einfach nur etwas durcheinandergebracht hatte, wie es ihr so oft passierte. Am vernunftigsten ware es, dachte sie, jetzt einfach in den Supermarkt zu gehen, ihre paar Einkaufe zu erledigen und sich nur um die eigenen Angelegenheiten zu kummern. Aber dagegen stand ihr lebenslanges Credo, da? man sich nicht vor der Verantwortung drucken durfe, und eigentlich durfte sie es auch jetzt nicht. Sie wunschte sich nur, jemand zu haben, den sie um Rat fragen konnte, und genau in diesem Augenblick sah sie Erica McLean, eine ihrer ehemaligen Schulerinnen, die eben auf dem Weg in den Supermarkt war.
Erica, inzwischen verheiratet und Mutter, hatte es eilig, doch sie blieb stehen und fragte hoflich: »Wie geht es Ihnen, Miss Rhea?« (Niemand, der je bei Miss Rhea in die Schule gegangen war, wagte es, sie mit dem Vornamen anzusprechen.)
»Ich bin etwas verwirrt, meine Liebe«, erwiderte Priscilla.
»Warum denn, Miss Rhea?«
»Ich habe da etwas gesehen... Aber ich bin mir nicht sicher, was. Ich mochte gern wissen, was du davon haltst.« Priscilla beschrieb den Vorfall, den sie noch erstaunlich gut im Gedachtnis behalten hatte.
»Sind Sie sicher, da? kein Filmteam mit dabei war?«
»Ich habe keins gesehen. Und du?«
»Nein.« Innerlich stohnte Erica McLean auf. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, da? die alte Priscilla einer Halluzination zum Opfer gefallen war, und es war einfach ihr, Ericas, Pech, da? sie gerade in diesem Augenblick vorbeikommen mu?te. Aber stehenlassen konnte sie die arme Alte auch nicht, denn sie mochte sie wirklich, und so blieb ihr nichts anderes ubrig, als zu vergessen, da? sie es eilig hatte, und zu versuchen, ihr zu helfen.
»Und wo ist das alles passiert?« fragte Erica.
»Dort druben.« Priscilla deutete auf den leeren Parkplatz neben Jessicas Volvo. Erica ging mit ihr hin. »Hier!« sagte Priscilla. »Genau hier ist es passiert.«
Erica sah sich um. Sie hatte nicht erwartet, etwas zu finden, und sie fand auch nichts. Doch als sie sich schon abwenden wollte, fiel ihr Blick auf eine Reihe kleiner Lachen auf dem Boden. Auf dem Teerbelag des Parkplatzes wirkten sie dunkelbraun. Wahrscheinlich Ol. Oder? Erica buckte sich neugierig und strich mit den Fingern daruber. Einen Augenblick spater zog sie sie entsetzt zuruck. Die Flussigkeit, die an ihnen klebte, war eindeutig Blut, und es war noch warm.
Fur die Polizei von Larchmont war es bis dahin ein ruhiger Morgen gewesen. Der diensthabende Beamte in seiner Glaskabine trank eben Kaffee und blatterte durch das Lokalblatt, die
Erica McLean sprach als erste. Sie nannte ihren Namen und sagte dann: »Ich habe eine Dame bei mir, Miss Priscilla Rhea...«
»Ich kenne Miss Rhea«, entgegnete der Beamte.
»Nun, sie glaubt, ein Verbrechen beobachtet zu haben, vielleicht sogar eine Entfuhrung. Wurden Sie bitte mit ihr sprechen?«
»Da wei? ich was Besseres«, antwortete der Polizist. »Ich schicke Ihnen einen Beamten im Streifenwagen, dem konnen Sie es dann erzahlen. Wo sind die Damen denn?«
»Wir warten vor dem Grand Union.«
»Bitte bleiben Sie dort. In ein paar Minuten wird jemand bei Ihnen sein.«
Der diensthabende Beamte sprach in das Funkmikrofon: »Revier an Wagen 423. Fahren Sie zum Grand Union Supermarkt. Eine Mrs. McLean und eine Miss Rhea erwarten Sie dort. Code eins.«
Sofort kam die Antwort: »Vier dreiundzwanzig an Revier. Zehn vier.«
Elf Minuten waren vergangen, seit der Kleinbus mit Jessica, Nicholas und Angus den Parkplatz des Supermarkts verlassen hatte.
Jensen, der junge Polizist, horte aufmerksam zu, wahrend Priscilla Rhea, beim zweiten Mal nun schon viel selbstbewu?ter, erzahlte, was sie gesehen hatte. Ihr fielen sogar noch zwei zusatzliche Details ein: Die Farbe des »kleinen Busses«, wie sie ihn nannte - hellbraun -, und die Tatsache, da? er dunkle Fenster hatte. Nein, auf die Nummer hatte sie nicht geachtet, und sie wu?te auch nicht, ob es New Yorker Schilder oder die eines anderen Staates waren.
Der Beamte war anfangs skeptisch, obwohl er es sich nicht anmerken lie?. Polizisten hatten oft mit Burgern