sechshundertfunfundsiebzigsten Jahr nach der Grundung Roms, in der Zeit des Konsulats von Servilius Vatia und Claudius Pulcher. Damals war Cicero noch nicht die imposante Gestalt, zu der er spater wurde und deren Zuge so bekannt waren, dass er nicht mal durch die ruhigste Stra?e spazieren konnte, ohne erkannt zu werden. (Was, so frage ich mich, ist nur mit den Tausenden seiner Busten und Portrats geschehen, die einst so viele Privathauser und offentliche Gebaude geschmuckt haben? Sind sie wirklich alle zerstort und verbrannt worden?) Der junge Mann, der an jenem Fruhlingsmorgen am Kai stand, war schmachtig, hatte einen Rundrucken und einen unnaturlich langen Hals, in dem ein Adamsapfel so gro? wie eine Kinderfaust auf und ab hupfte. Seine Haut war blass, er hatte vorstehende Augen und eingefallene Wangen; kurz, er war das Abbild eines kranklichen Mannes. Ich wei? noch, dass ich dachte: Halt dich ran, Tiro, mach das Beste aus der Reise, lange kann sie nicht dauern.

Zuerst fuhren wir nach Athen, wo er sich das Vergnugen gonnen wollte, an der Akademie Philosophie zu studieren. Als ich ihm zum ersten Mal die Tasche in den Vorlesungssaal getragen hatte und mich wieder entfernen wollte, rief er mich zuruck und fragte, wohin ich denn vorhatte zu gehen.

»In den Schatten zu den anderen Sklaven«, antwortete ich. »Es sei denn, Ihr benotigt noch meine Dienste.«

»Und ob ich die benotige«, sagte er. »Ich habe eine au?erst anstrengende Aufgabe fur dich. Ich will, dass du hierbleibst und dir ein klein wenig Philosophie aneignest. Dann habe ich auf unseren langen Reisen jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.«

Also blieb ich, und mir wurde die Ehre zuteil, personlich Antiochos aus Askalon zu horen, der die drei Grundprinzipien des Stoizismus erklarte - dass nur die Tugend zur Gluckseligkeit fuhre, dass nichts au?er der Tugend gut sei und dass man den Gefuhlen nicht trauen konne. Drei einfache Regeln, die, wurde der Mensch sie befolgen, die meisten Probleme der Welt losen konnten. Spater diskutierten Cicero und ich oft uber derartige Fragen, und in der Welt der Gedanken verga?en wir immer die Unterschiede unserer gesellschaftlichen Stellung. Wir blieben sechs Monate bei Antiochos und zogen dann weiter, um uns dem eigentlichen Zweck unserer Reise zuzuwenden.

Die tonangebende Schule der Rhetorik zu jener Zeit war die sogenannte »asianische« Methode. Eine kunstvolle und blumige Art des Vortrags, voller pomposer Wendungen und klingender Versformen, auf und ab schreitend zelebriert, begleitet von ausladender Gestik. Ihr fuhrender Vertreter in Rom war Quintus Hortensius Hortalus, der allgemein als der herausragende Redner seiner Zeit betrachtet wurde und dessen fantasievolle Beinarbeit ihm den Spitznamen »der Tanzmeister« eingebracht hatte. Um Hortensius' Methode zu ergrunden, legte Cicero besonderen Wert darauf, all seine Lehrmeister aufzusuchen: Menippos aus Stratonikeia, Dionysios aus Magnesia, Aischylos aus Knidos, Xenokles aus Adramyttion - allein die Namen geben eine Ahnung von ihrem Stil. Mit jedem von ihnen verbrachte Cicero Wochen. Er studierte ihre Techniken so lange, bis er glaubte, sie begriffen zu haben.

»Tiro«, sagte er eines Abends, wahrend er in dem gedunsteten Gemuse herumstocherte, das er jeden Tag a?, »ich habe genug von diesen gelackten Gockeln. Kummere dich um ein Boot, das uns von Loryma nach Rhodos bringt.Wir versuchen etwas anderes, wir schreiben uns in der Schule von Apollonios Molon ein.«

Und so kam es, dass an einem Fruhlingsmorgen kurz nach Sonnenaufgang, als das Karpathische Meer so milchig glatt wie eine Perle vor uns lag (man muss mir die gelegentlichen gedrechselten Wendungen verzeihen: Ich habe zu viel griechische Dichtung gelesen, als dass ich den nuchternen lateinischen Stil durchhalten konnte), ein Boot uns vom Fesdand zu jener altberuhmten, zerklufteten Insel brachte, wo am Landungssteg die stammige Gestalt von Molon hochstpersonlich wartete.

Molon war ein Rechtsgelehrter, der aus Alabanda stammte und in den Gerichtssalen Roms brilliert hatte. Ihm war sogar die beispiellose Ehre zuteil geworden, im Senat eine Rede in griechischer Sprache halten zu durfen. Danach hatte er sich nach Rhodos zuruckgezogen und seine Rhetorikschule gegrundet. Seine Theorie der Redekunst, die das genaue Gegenteil der »asianischen« darstellte, war einfach: Lauf nicht zu viel herum, halt den Kopf gerade, komm schnell zum Punkt, bring deine Zuhorer zum Lachen, bring sie zum Weinen, und wenn du ihre Sympathie gewonnen hast, dann setz dich wieder hin. »Denn nichts«, so Molon, »trocknet schneller als eine Trane.« Das war weit mehr nach Ciceros Geschmack, und so begab er sich ganz und gar in die Hand von Molon.

Molons erste Handlung an jenem Abend war, dass er Cicero eine Schussel hart gekochter Eier mit Sardellenso?e auftischte. Als Cicero fertig gegessen hatte - was nicht ohne Klagen abging -, servierte er ihm noch ein gro?es, uber Holzkohle gebratenes Stuck Fleisch und einen Becher Ziegenmilch. »Du brauchst Fleisch auf den Rippen, junger Mann«, sagte er und klopfte sich auf seinen breiten Brustkorb. »Aus einer schwachlichen Rohrflote ist noch nie ein voller Ton gekommen.« Cicero schaute ihn wutend an, a? seinen Teller aber pflichtschuldigst bis auf den letzten Bissen leer. In jener Nacht schlief Cicero zum ersten Mal seit Monaten durch. (Ich wei? das, weil ich immer auf dem Boden neben seinem Bett schlief.)

Bei Tagesanbruch begannen die Leibesubungen. »Auf dem Forum zu sprechen«, sagte Molon, »ist wie ein Wettlauf. Es verlangt Durchhaltevermogen und Kraft.« Er tauschte einen Faustschlag auf Ciceros Brustkorb an, worauf dieser ein lautes Uff! ausstie?, zuruckstolperte und fast gesturzt ware. Molon lie? ihn mit gespreizten Beinen und durchgedruckten Knien Aufstellung nehmen und mit den Fingerspitzen zwanzig Mal den Boden vor jedem Fu? beruhren. Dann musste er sich mit dem Rucken auf den Boden legen, die Hande hinter dem Kopf verschranken und, ohne die gestreckten Beine vom Boden zu heben, den Oberkorper aufrichten und wieder senken. Danach befahl er ihm, sich auf den Bauch zu drehen und den Korper ausschlie?lich mit der Kraft seiner Arme auf und ab zu hieven, wieder zwanzig Mal und auch hier, ohne die Knie zu beugen. Das war das Programm des ersten Tages.

An den folgenden Tagen kamen weitere Ubungen hinzu, und die Dauer der Ubungen wurde ausgedehnt. Cicero hatte einen guten Schlaf, und auch die Mahlzeiten verursachten keine Beschwerden mehr.

Zur eigentlichen Vortragsschulung verlie? Molon mit seinem eifrigen Schuler den schattigen Innenhof, lie? ihn in der Mittagshitze ohne Pause einen steilen Hugel hinaufgehen und dabei Ubungspassagen rezitieren - ublicherweise eine Gerichtsszene oder einen Monolog von Menander. Ciceros stampfende Schritte verscheuchten die Eidechsen, und die zirpenden Zikaden in den Olivenbaumen waren sein einziges Publikum, wahrend er seine Lunge kraftigte und lernte, aus einem einzigen Atemzug das Maximum an Worten herauszuholen. »Halte die Tonhohe im mittleren Bereich«, wies ihn Molon an. »Da sitzt die Kraft. Nicht zu hoch und nicht zu tief.« Nachmittags ging Molon mit ihm hinunter an den Kiesstrand, postierte sich achtzig Schritte von Cicero entfernt (die maximale Reichweite der menschlichen Stimme) und lie? ihn zur Ausbildung des Stimmvolumens gegen das Donnern und Brausen der Brandung anreden - das komme, so sagte er, dem Gemurmel von dreitausend Menschen unter freiem Himmel oder dem Hintergrundgerausch von ein paar hundert schwatzenden Menschen im Senat am nachsten. An derlei storende Gerausche musse Cicero sich gewohnen.

»Und was ist mit dem Inhalt?«, fragte Cicero. »Soll nicht in erster Linie die Kraft meiner Argumente zum Zuhoren zwingen?«

Molon zuckte mit den Achseln. »Inhalt geht mich nichts an. Denk an Demosthenes: >Bei der Redekunst zahlen nur drei Dinge. Der Vortrag, der Vortrag und noch mal der Vortrags«

»Und mein Stottern?«

»Auch dein St-stottern intere-ressiert mich nicht«, erwiderte Molon grinsend und zwinkerte mit den Augen. »Nein, im Ernst, Stottern ist interessant, es vermittelt den Eindruck von Ehrlichkeit, das ist von Nutzen. Demosthenes hat selbst leicht gelispelt. Das Publikum identifiziert sich mit solchen Unzulanglichkeiten. Das einzig Ode ist Perfektion. Also, geh jetzt ein Stuck den Strand hinunter, und lass horen, ob ich dich noch verstehen kann.«

Und so hatte ich die Ehre, von Anfang an miterleben zu durfen, wie der eine Meister der Redekunst dem anderen seine Kunstgriffe beibrachte. »Moglichst nicht den Kopf neigen, das macht einen unmannlichen Eindruck. Nicht mit den Fingern schlenkern und immer die Schultern still halten. Wenn du fur eine Geste deine Finger brauchst, dann versuch, den gekrummten Mittelfinger auf die Daumenspitze zu legen und die drei restlichen Finger gerade auszustrecken -genau, so ist es gut. Naturlich muss der Blick immer den Bewegungen der Geste folgen, au?er bei einer zuruckweisenden Bemerkung: >Die Gotter mogen uns von dieser Plage verschonen< oder ich glaube nicht, dass ich diese Ehre verdiene.<«

Alles Schriftliche war verboten. Kein Redner, der diesen Namen verdiente, wurde im Traum daran denken, einen Text vorzulesen oder sich mit einem Stapel Notizen zu behelfen. Molon bevorzugte die Standardmethode, um eine Rede einzustudieren: die des imaginaren Rundgangs durch das Haus des Redners. »Stell dir den ersten Punkt,

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