Satzungen hinweg flutheten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche» Hexentrank «erschienen ist. Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und Seewegen zu den Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang vollig gesichert und geschutzt durch die hier in seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefahrlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in der sich jene majestatisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmoglich wurde dieser Widerstand, als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ahnliche Triebe Bahnbrachen: jetzt beschrankte sich das Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versohnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen. Diese Versohnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Cultus: wohin man blickt, sind die Umwalzungen dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Versohnung zweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken; im Grunde war die Kluft nicht uberbruckt. Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenen babylonischen Sakaen und ihrem Ruckschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlosungsfesten und Verklarungstagen.
Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren kunstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein kunstlerisches Phanomen. Jener scheussliche Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwarmer erinnert an ihn — wie Heilmittel an todtliche Gifte erinnern — , jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Tone entreisst. Aus der hochsten Freude tont der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut uber einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie uber ihre Zerstuckelung in Individuen zu seufzen habe. Der Gesang und die Gebardensprache solcher zwiefach gestimmter Schwarmer war fur die homerisch- griechische Welt etwas Neues und Unerhortes: und insbesondere erregte ihr die dionysische Musik Schrecken und Grausen. Wenn die Musik scheinbar bereits als eine apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zustande entwickelt wurde. Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tonen, aber in nur angedeuteten Tonen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik uberhaupt ausmacht, die erschutternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur hochsten Steigerung aller seiner symbolischen Fahigkeiten gereizt; etwas Nieempfundenes drangt sich zur Aeusserung, die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrucken; eine neue Welt der Symbole ist nothig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebarde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Krafte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plotzlich ungestum. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Krafte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Hohe der Selbstentausserung angelangt sein, die in jenen Kraften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf ihn blicken! Mit einem Erstaunen, das um so grosser war, als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke.
Um dies zu begreifen, mussen wir jenes kunstvolle Gebaude der apollinischen Cultur gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es begrundet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen olympischen Gottergestalten, die auf den Giebeln dieses Gebaudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden Reliefs dargestellt seine Friese zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung, so durfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat uberhaupt jene ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedurfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang?
Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher Hohe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und enttauscht ihnen bald den Rucken kehren mussen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht: hier redet nur ein uppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergottlicht ist, gleichviel ob es gut oder bose ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phantastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fragen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese ubermuthigen Menschen das Leben genossen haben mogen, dass, wohin sie sehen, Helena, das» in susser Sinnlichkeit schwebende «Idealbild ihrer eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem bereits ruckwarts gewandten Beschauer mussen wir aber zurufen:»Geh' nicht von dannen, sondern hore erst, was die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, das sich hier mit so unerklarlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet. Es geht die alte Sage, dass Konig Midas lange Zeit nach dem weisen Silen, dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hande gefallen ist, fragt der Konig, was fur den Menschen das Allerbeste und Allervorzuglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Damon; bis er, durch den Konig gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht:»Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Muhsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu horen fur dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist fur dich ganzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist fur dich — bald zu sterben».
Wie verhalt sich zu dieser Volksweisheit die olympische Gotterwelt? Wie die entzuckungsreiche Vision des gefolterten Martyrers zu seinen Peinigungen.
Jetzt offnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um uberhaupt leben zu konnen, musste er vor sie hin die glanzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Machte der Natur, jene uber allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermuthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind — wurde von den Griechen durch jene kunstlerische Mittelwelt der Olympier fortwahrend von Neuem uberwunden, jedenfalls verhullt und dem Anblick entzogen. Um leben zu konnen, mussten die Griechen diese Gotter, aus tiefster Nothigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprunglichen titanischen Gotterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schonheitstrieb in langsamen Uebergangen die olympische Gotterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebusch hervorbrechen. Wie anders hatte jenes so reizbar empfindende, so ungestum begehrende, zum Leiden so einzig befahigte Volk das Dasein ertragen konnen, wenn ihm nicht dasselbe, von einer hoheren Glorie umflossen, in seinen Gottern gezeigt worden ware. Derselbe Trieb, der die Kunst in's Leben ruft, als die zum Weiterleben verfuhrende Erganzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische Welt entstehn, in der sich der hellenische» Wille «einen verklarenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Gotter das Menschenleben, indem sie es selbst leben — die allein genugende Theodicee! Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Gotter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche Schmerz der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden: so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen konnte,»das Allerschlimmste sei fur sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, uberhaupt einmal zu sterben«. Wenn die Klage einmal ertont, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blattergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des grossten Helden nicht unwurdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelohner. So ungestum verlangt, auf der apollinischen Stufe, der» Wille «nach diesem Dasein, so eins fuhlt sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede wird.
Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen so sehnsuchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit der Natur, fur die Schiller das Kunstwort» naiv «in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der