Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die auf die Erkenntniss des dionysisch- apollinischen Genius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verstandniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wir nun zunachst, wo jener neue Keim sich zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht, der sich nachher bis zur Tragodie und zum dramatischen Dithyrambus entwickelt. Hieruber giebt uns das Alterthum selbst bildlich Aufschluss, wenn es als die Urvater und Fackeltrager der griechischen Dichtung Homer und Archilochus auf Bildwerken, Gemmen u. s. w. neben einander stellt, in der sicheren Empfindung, dass nur diese Beiden gleich vollig originalen Naturen, von denen aus ein Feuerstrom auf die gesammte griechische Nachwelt fortfliesse, zu erachten seien. Homer, der in sich versunkene greise Traumer, der Typus des apollinischen, naiven Kunstlers, sieht nun staunend den leidenschaftlichen Kopf des wild durch's Dasein getriebenen kriegerischen Musendieners Archilochus: und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzuzufugen, dass hier dem» objectiven «Kunstler der erste» subjective «entgegen gestellt sei. Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Kunstler nur als schlechten Kunstler kennen und in jeder Art und Hohe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlosung vom» Ich «und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelustens fordern, ja ohne Objectivitat, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft kunstlerische Erzeugung glauben konnen. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem losen, wie der» Lyriker «als Kunstler moglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer» ich «sagt und die ganze chromatische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbruche seiner Begierde; ist er, der erste subjectiv genannte Kunstler, nicht damit der eigentliche Nichtkunstler? Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der» objectiven «Kunst, in sehr merkwurdigen Ausspruchen erwiesen hat?
Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm selbst unerklarliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht; er gesteht namlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalitat der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung (»Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst spater. Eine gewisse musikalische Gemuthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee«). Nehmen wir jetzt das wichtigste Phanomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die uberall als naturlich geltende Vereinigung, ja Identitat des Lyrikers mit dem Musiker — der gegenuber unsre neuere Lyrik wie ein Gotterbild ohne Kopf erscheint — so konnen wir jetzt, auf Grund unsrer fruher dargestellten aesthetischen Metaphysik, uns in folgender Weise den Lyriker erklaren. Er ist zuerst, als dionysischer Kunstler, ganzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, wenn anders diese mit Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter Abguss derselben genannt worden ist; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnissartige Traumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlosung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivitat hat der Kunstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben: das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das» Ich «des Lyrikers tont also aus dem Abgrunde des Seins: seine» Subjectivitat «im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Tochtern des Lykambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt: wir sehen Dionysus und die Manaden, wir sehen den berauschten Schwarmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken — wie ihn uns Euripides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpentrift, in der Mittagssonne — : und jetzt tritt Apollo an ihn heran und beruhrt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalische Verzauberung des Schlafers spruht jetzt gleichsam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer hochsten Entfaltung Tragodien und dramatische Dithyramben heissen.
Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild vollig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fuhlt aus dem mystischen Selbstentausserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Farbung, Causalitat und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers. Wahrend der Letztgenannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Behagen lebt und nicht mude wird, sie bis auf die kleinsten Zuge hin liebevoll anzuschauen, wahrend selbst das Bild des zurnenden Achilles fur ihn nur ein Bild ist, dessen zurnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst — so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten geschutzt ist — , so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als er selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt» ich «sagen darf: nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch- realen Menschen, sondern die einzige uberhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch sich selbst als Nichtgenius erblickt d. h. sein» Subject«, das ganze Gewuhl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dunkendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit ihm verbundene Nichtgenius eins ware und als ob der Erstere von sich selbst jenes Wortchen» ich «sprache, so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verfuhren konnen, wie er allerdings diejenigen verfuhrt hat, die den Lyriker als den subjectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archilochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht: wahrend jener subjectiv wollende und begehrende Mensch Archilochus uberhaupt nie und nimmer Dichter sein kann. Es ist aber gar nicht nothig, dass der Lyriker gerade nur das Phanomen des Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins; und die Tragodie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers von jenem allerdings zunachst stehenden Phanomen entfernen kann.
Schopenhauer, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker fur die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann, wahrend ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte: wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre, hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das eigenthumliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und Vorstellung I, S. 295):»Es ist das Subject des Willens, d.h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden fullt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch ofter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter Gemuthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Subjects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschutterliche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer beschrankten, immer noch durftigen Wollens: die Empfindung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was uberhaupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlosen: wir folgen; doch nur auf Augenblicke: immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung an unsere personlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung; aber auch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nachste schone Umgebung, in welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum geht im Liede und der lyrischen Stimmung das Wollen (das personliche Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden Umgebung wundersam gemischt durch einander: es werden Beziehungen zwischen beiden gesucht und imaginirt; die subjective Stimmung, die Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so gemischten und getheilten Gemuthszustande ist das achte Lied der Abdruck».
Wer vermochte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren Wesen darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen d. h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch einander gemischt seien? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Kunste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, uberhaupt in der Aesthetik ungehorig ist, da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fordernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subject Kunstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlost und gleichsam Medium