Jener zuletzt erwahnte, fur manchen Politiker erhaben klingende Erlauterungsgedanke — als ob das unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore dargestellt sei, der uber die leidenschaftlichen Ausschreitungen und Ausschweifungen der Konige hinaus immer Recht behalte — mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt sein: auf die ursprungliche Formation der Tragodie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiosen Ursprungen der ganze Gegensatz von Volk und Furst, uberhaupt jegliche politisch-sociale Sphare ausgeschlossen ist; aber wir mochten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles fur Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer» constitutionellen Volksvertretung «zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht zuruckgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie hoffentlich auch in ihrer Tragodie nicht einmal» geahnt».

Viel beruhmter als diese politische Erklarung des Chors ist der Gedanke A. W. Schlegel's, der uns den Chor gewissermaassen als den Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den» idealischen Zuschauer «zu betrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten mit jener historischen Ueberlieferung, dass ursprunglich die Tragodie nur Chor war, erweist sich als das was sie ist, als eine rohe, unwissenschaftliche, doch glanzende Behauptung, die ihren Glanz aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt germanische Voreingenommenheit fur Alles, was» idealisch «genannt wird und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind namlich erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl moglich sei, aus diesem Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren. Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so uber die Kuhnheit der Schlegel'schen Behauptung wie uber die total verschiedene Natur des griechischen Publicums. Wir hatten namlich doch immer gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei wer er wolle, sich immer bewusst bleiben musse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine empirische Realitat: wahrend der tragische Chor der Griechen in den Gestalten der Buhne leibhafte Existenzen zu erkennen genothigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirklich den Titan Prometheus vor sich zu sehen und halt sich selbst fur eben so real wie den Gott der Scene. Und das sollte die hochste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich den Okeaniden den Prometheus fur leiblich vorhanden und real zu halten? Und es ware das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die Buhne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien? Wir hatten an ein aesthetisches Publicum geglaubt und den einzelnen Zuschauer fur um so befahigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk als Kunst d. h. aesthetisch zu nehmen; und jetzt deutete uns der Schlegel'sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht aesthetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O uber diese Griechen! seufzen wir; sie werfen uns unsre Aesthetik um! Daran aber gewohnt, wiederholten wir den Sdllegel'schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam.

Aber jene so ausdruckliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel: der Chor an sich, ohne Buhne, also die primitive Gestalt der Tragodie und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was ware das fur eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen ware, als deren eigentliche Form der» Zuschauer an sich «zu gelten hatte. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist ein widersinniger Begriff. Wir furchten, dass die Geburt der Tragodie weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklaren sei und halten dies Problem fur zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten auch nur beruhrt zu werden.

Eine unendlich werthvollere Einsicht uber die Bedeutung des Chors hatte bereits Schiller in der beruhmten Vorrede zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Tragodie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren.

Schiller kampft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den gemeinen Begriff des Naturlichen, gegen die bei der dramatischen Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Wahrend der Tag selbst auf dem Theater nur ein kunstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Ganzen: es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die Einfuhrung des Chores sei der entscheidende Schritt, mit dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklart werde. — Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, fur die unser sich uberlegen wahnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort» Pseudoidealismus «gebraucht. Ich furchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung des Naturlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealismus angelangt, namlich in der Region der Wachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei gewissen beliebten Romanen der Gegenwart: nur quale man uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche» Pseudoidealismus«uberwunden sei.

Freilich ist es ein» idealer «Boden, auf dem, nach der richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der ursprunglichen Tragodie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben uber die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich fur diesen Chor die Schwebegeruste eines fingirten Naturzustandes gezimmert und auf sie hin fingirte Naturwesen gestellt. Die Tragodie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine willkurlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt; vielmehr eine Welt von gleicher Realitat und Glaubwurdigkeit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen fur den glaubigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer religios zugestandenen Wirklichkeit unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die Tragodie beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Tragodie spricht, ist ein hier uns eben so befremdendes Phanomen wie uberhaupt die Entstehung der Tragodie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle, dass sich der Satyr, das fingirte Naturwesen, zu dem Culturmenschen in gleicher Weise verhalt, wie die dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise, glaube ich, fuhlte sich der griechische Culturmensch im Angesicht des Satyrchors aufgehoben: und dies ist die nachste Wirkung der dionysischen Tragodie, dass der Staat und die Gesellschaft, uberhaupt die Klufte zwischen Mensch und Mensch einem ubermachtigen Einheitsgefuhle weichen, welches an das Herz der Natur zuruckfuhrt. Der metaphysische Trost, — mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragodie entlasst — dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstorbar machtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Volkergeschichte ewig dieselben bleiben.

Mit diesem Chore trostet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befahigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernidhtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich — das Leben.

Die Verzuckung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewohnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthalt namlich wahrend seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles personlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltaglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltagliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustande. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge andern, sie empfinden es als lacherlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss todtet das Handeln, zum Handeln gehort das Umschleiertsein durch die Illusion — das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Traumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Moglichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! — die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit uberwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfangt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht uber eine Welt nach dem Tode, uber die Gotter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Gottern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch uberall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.

Hier, in dieser hochsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst; sie allein vermag jene Ekelgedanken uber das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen,

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