geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlosung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung und Erhohung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomodie durchaus nicht fur uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgefuhrt wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schopfer jener Kunstwelt sind: wohl aber durfen wir von uns selbst annehmen, dass wir fur den wahren Schopfer derselben schon Bilder und kunstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre hochste Wurde haben — denn nur als aesthetisches Phanomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt: — wahrend freilich unser Bewusstsein uber diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein vollig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schopfer und Zuschauer jener Kunstkomodie, einen ewigen Genuss bereitet. Nur soweit der Genius im Actus der kunstlerischen Zeugung mit jenem Urkunstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas uber das ewige Wesen der Kunst; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mahrchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer.
In Betreff des Archilochus hat die gelehrte Forschung entdeckt, dass er das Volkslied in die Litteratur eingefuhrt habe, und dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, in der allgemeinen Schatzung der Griechen zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegensatz zu dem vollig apollinischen Epos? Was anders als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen; seine ungeheure, uber alle Volker sich erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafur, wie stark jener kunstlerische Doppeltrieb der Natur ist: der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlasst, wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik verewigen. Ja es musste auch historisch nachweisbar sein, wie jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Starkste durch dionysische Stromungen erregt worden ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben.
Das Volkslied aber gilt uns zu allernachst als musikalischer Weltspiegel, als ursprungliche Melodie, die sich jetzt eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dichtung ausspricht. Die Melodie ist also das Erste und Allgemeine, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven Schatzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von Neuem; nichts Anderes will uns die Strophenform des Volksliedes sagen: welches Phanomen ich immer mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklarung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzahlige Beispiele finden, wie die fortwahrend gebarende Melodie Bilderfunken um sich ausspruht: die in ihrer Buntheit, ihrem jahen Wechsel, ja ihrem tollen Sichubersturzen eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortstromen wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmassige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen: und dies haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des Terpander gethan.
In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Starkste angespannt, die Musik nachzuahmen: deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig mogliche Verhaltniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne durfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptstromungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer uber die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau's, des Wortmaterial's bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wird Einem dabei handgreiflich deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen Flotenweisen des Olympus erklungen sein mussen, die noch im Zeitalter des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprunglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes, unserer Aesthetik nur anstossig dunkendes Phanomen unserer Tage. Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven'sche Symphonie die einzelnen Zuhorer zu einer Bilderrede nothigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstuck erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt: an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu uben und das doch wahrlich erklarenswerthe Phanomen zu ubersehen, ist recht in der Art jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern uber eine Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pastorale und einen Satz als» Scene am Bach«, einen anderen als» lustiges Zusammensein der Landleute «bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen — und nicht etwa die nachgeahmten Gegenstande der Musik — Vorstellungen, die uber den dionysischen Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren konnen, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schopferische Volksmenge zu ubertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das ganze Sprachvermogen durch das neue Princip der Nachahmung der Musik aufgeregt wird.
Durfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so konnen wir jetzt fragen:»als was erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?«Sie erscheint als Wille, das Wort im Schopenhauerischen Sinne genommen, d. h. als Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf als moglich den Begriff des Wesens von dem der Erscheinung: denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmoglich Wille sein, weil sie als solcher ganzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen ware — denn der Wille ist das an sich Unaesthetische — ; aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern auszudrucken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom Flustern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns; unter dem Triebe, in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drangender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gefuhls: sein eignes Wollen, Sehnen, Stohnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Dies ist das Phanomen des Lyrikers: als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, wahrend er selbst, vollig losgelost von der Gier des Willens, reines ungetrubtes Sonnenauge ist.
Diese ganze Erorterung halt daran fest, dass die Lyrik eben so abhangig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer volligen Unumschranktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich ertragt. Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgultigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nothigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschopfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphare symbolisirt, die uber alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenuber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss: daher kann die Sprache, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlasst, nur in einer ausserlichen Beruhrung mit der Musik, wahrend deren tiefster Sinn, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt naher gebracht werden kann.
Alle die bisher erorterten Kunstprincipien mussen wir jetzt zu Hulfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu finden, als welches wir den Ursprung der griechischen Tragodie bezeichnen mussen. Ich denke nichts Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn gelost ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genaht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass die Tragodie aus dem tragischen Chore entstanden ist und ursprunglich nur Chor und nichts als Chor war: woher wir die Verpflichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in's Herz zu sehen, ohne uns an den gelaufigen Kunstredensarten — dass er der idealische Zuschauer sei oder das Volk gegenuber der furstlichen Region der Scene zu vertreten habe — irgendwie genugen zu lassen.