Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen mussten: dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau's sich auch als Kunstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Kunstler Emil gefunden zu haben wahnte. Wo uns das» Naive «in der Kunst begegnet, haben wir die hochste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen: welche immer erst ein Titanenreich zu sturzen und Ungethume zu todten hat und durch kraftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen uber eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfahigkeit Sieger geworden sein muss. Aber wie selten wird das Naive, jenes vollige Verschlungensein in der Schonheit des Scheines, erreicht! Wie unaussprechbar erhaben ist deshalb Homer, der sich, als Einzelner, zu jener apollinischen Volkscultur verhalt, wie der einzelne Traumkunstler zur Traumbefahigung des Volks und der Natur uberhaupt. Die homerische» Naivetat «ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen: es ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so haufig verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt: nach diesem strecken wir die Hande aus, und jenes erreicht die Natur durch unsre Tauschung. In den Griechen wollte der» Wille «sich selbst, in der Verklarung des Genius und der Kunstwelt, anschauen; um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschopfe sich selbst als verherrlichenwerth empfinden sie mussten sich in einer hoheren Sphare wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte Dies ist die Sphare der Schonheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser Schonheitsspiegelung kampfte der hellenische» Wille «gegen das dem kunstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Kunstler.

4.

Ueber diesen naiven Kunstler giebt uns die Traumanalogie einige Belehrung Wenn wir uns den Traumenden vergegenwartigen, wie er, mitten in der Illusion der Traumwelt und ohne sie zu storen, sich zuruft» es ist ein Traum, ich will ihn weiter traumen«, wenn wir hieraus auf eine tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir andererseits, um uberhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen traumen zu konnen, den Tag und seine schreckliche Zudringlichkeit vollig vergessen haben mussen so durfen wir uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise, unter der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So gewiss von den beiden Halften des Lebens, der wachen und der traumenden Halfte, uns die erstere als die ungleich bevorzugtere, wichtigere, wurdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte dunkt so mochte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, fur jenen geheimnissvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegengesetzte Werthschatzung des Traumes behaupten. Je mehr ich namlich hin der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrunstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlostwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fuhle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrangt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzuckende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlosung braucht: welchen Schein wir, vollig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fortwahrendes Werden in Zeit, Raum und Causalitat, mit anderen Worten, als empirische Realitat zu empfinden genothigt sind. Sehen wir also einmal von unsrer eignen» Realitat «fur einen Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie das der Welt uberhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als der Schein des Scheins, somit als eine noch hohere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem naiven Kunstler und dem naiven Kunstwerke, das gleichlfalls nur» Schein des Scheins «ist. Rafael, selbst einer jener unsterblichen» Naiven«, hat uns in einem gleichnissartigen Gemalde jenes Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Kunstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner Transfiguration zeigt uns die untere Halfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelnden Tragern, den rathlos geangstigten Jungern, die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt der» Schein «ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen — ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in hochster Kunstsymbolik, jene apollinische Schonheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergottlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlosung durch den Schein, sich vollzieht: er zeigt uns, mit erhabenen Gebarden, wie die ganze Welt der Qual nothig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlosenden Vision gedrangt werde und dann, ins Anschauen derselben versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.

Diese Vergottlichung der Individuation kennt, wenn sie uberhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur Ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das Maass im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu konnen, Selbsterkenntniss. Und so lauft neben der asthetischen Nothwendigkeit der Schonheit die Forderung des» Erkenne dich selbst «und des» Nicht zu viel!«her, wahrend Selbstuberhebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Damonen der nicht-apollinischen Sphare, daher als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet wurden. Wegen seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner ubermassigen Weisheit halber, die das Rathsel der Sphinx loste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten sturzen: so interpretirte der delphische Gott die griechische Vergangenheit.

«Titanenhaft «und» barbarisch «dunkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte: ohne dabei sich verhehlen zu konnen, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gesturzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfinden: sein ganzes Dasein mit aller Schonheit und Massigung ruhte auf einem verhullten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben! Das» Titanische «und das» Barbarische «war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das Apollinische! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Massigung gebaute und kunstlich gedammte Welt der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Uebermaass der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde: denken wir uns, was diesem damonischen Volksgesange gegenuber der psalmodirende Kunstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklange, bedeuten konnte! Die Musen der Kunste des» Scheins «verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustande unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Uebermaass enthullte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, uberall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehen und die Majestat des delphischen Gottes starrer und drohender als je sich ausserte. Ich vermag namlich den dorischen Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklaren: nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch-barbarische Wesen des Dionysischen konnte eine so trotzig-sprode, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemasse und herbe Erziehung, ein so grausames und rucksichtsloses Staatswesen von langerer Dauer sein.

Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgefuhrt worden, was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte: wie das Dionysische und das Apollinische in immer neuen auf einander folgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben: wie aus dem» erzenen «Zeitalter, mit seinen Titanenkampfen und seiner herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen Schonheitstriebes die homerische Welt entwickelt, wie diese» naive «Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenuber sich das Apollinische zur starren Majestat der dorischen Kunst und Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die altere hellenische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, in vier grosse Kunststufen zerfallt: so sind wir jetzt gedrangt, weiter nach dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als die Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte: und hier bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der attischen Tragodie und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebundniss, nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde — das zugleich Antigone und Kassandra ist — verherrlicht hat.

5.
Вы читаете Die Geburt der Tragodie
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату