gar der fruhzeitige Untergang: man erwage der Reihe nach von diesem Gesichtspuncte aus die Tugend des Gehorsams, der Keuschheit, der Pietat, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften — also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Forderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgultig oder ironisch lebt, — dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der» Nachste «lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vortheile hat! Dachte der Nachste selber» selbstlos«, so wurde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schadigung zu seinen Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, dass er dieselbe nicht gut nennte! — Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Principe! Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz,»du sollst dir selber entsagen und dich zum Opfer bringen «durfte, um seiner eigenen Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen decretirt werden, welches damit selber seinem Vortheil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der Einzelnen seinen eigenen Untergang herbeifuhrte. Sobald aber der Nachste (oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willen anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz» du sollst den Vortheil auch auf Unkosten alles Anderen suchen «zur Anwendung gebracht, also in Einem Athem ein» Du sollst «und» Du sollst nicht «gepredigt!
L'ordre du jour pour le roi. — Der Tag beginnt: beginnen wir fur diesen Tag die Geschafte und Feste unseres allergnadigsten Herrn zu ordnen, der jetzt noch zu ruhen geruht. Seine Majestat hat heute schlechtes Wetter: wir werden uns huten, es schlecht zu nennen; man wird nicht vom Wetter reden, — aber wir werden die Geschafte heute etwas feierlicher und die Feste etwas festlicher nehmen, als sonst nothig ware. Seine Majestat wird vielleicht sogar krank sein: wir werden zum Fruhstuck die letzte gute Neuigkeit vom Abend prasentiren, die Ankunft des Herrn von Montaigne, der so angenehm uber seine Krankheit zu scherzen weiss, — er leidet am Stein. Wir werden einige Personen empfangen (Personen! — was wurde jener alte aufgeblasene Frosch, der unter ihnen sein wird, sagen, wenn er diess Wort horte!» Ich bin keine Person, wurde er sagen, sondern immer die Sache selber«.) — und der Empfang wird langer dauern, als irgend jemandem angenehm ist: Grund genug, von jenem Dichter zu erzahlen, der auf seine Thure schrieb:»wer hier eintritt, wird mir eine Ehre erweisen; wer es nicht thut — ein Vergnugen.«— Diess heisst furwahr eine Unhoflichkeit auf hofliche Manier sagen! Und vielleicht hat dieser Dichter fur seinen Theil ganz Recht, unhoflich zu sein: man sagt, dass seine Verse besser seien, als der Verse-Schmied. Nun, so mag er noch viele machen und sich selber moglichst der Welt entziehen: und das ist ja der Sinn seiner artigen Unart! Umgekehrt ist ein Furst immer mehr werth, als sein» Vers«, selbst wenn — doch was machen wir? Wir plaudern, und der ganze Hof meint, wir arbeiteten schon und zerbrachen uns die Kopfe: man sieht kein Licht fruher, als das in unserem Fenster brennen. — Horch! War das nicht die Glocke? Zum Teufel! Der Tag und der Tanz beginnt, und wir wissen seine Touren nicht! So mussen wir improvisiren, — alle Welt improvisirt ihren Tag. Machen wir es heute einmal wie alle Welt! — Und damit verschwand mein wunderlicher Morgentraum, wahrscheinlich vor den harten Schlagen der Thurmuhr, die eben mit all der Wichtigkeit, die ihr eigen ist, die funfte Stunde verkundete. Es scheint mir, dass diessmal der Gott der Traume sich uber meine Gewohnheiten lustig machen wollte, — es ist meine Gewohnheit, den Tag so zu beginnen, dass ich ihn fur mich zurecht lege und ertraglich mache, und es mag sein, dass ich diess ofters zu formlich und zu prinzenhaft gethan habe.
Die Anzeichen der Corruption. — Man beachte an jenen von Zeit zu Zeit nothwendigen Zustanden der Gesellschaft, welche mit dem Wort» Corruption «bezeichnet werden, folgende Anzeichen. Sobald irgend wo die Corruption eintritt, nimmt ein bunter Aberglaube uberhand und der bisherige Gesammtglaube eines Volkes wird blass und ohnmachtig dagegen: der Aberglaube ist namlich die Freigeisterei zweiten Ranges, — wer sich ihm ergiebt, wahlt gewisse ihm zusagende Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein Recht der Wahl. Der Aberglaubische ist, im Vergleich mit dem Religiosen, immer viel mehr» Person«, als dieser, und eine aberglaubische Gesellschaft wird eine solche sein, in der es schon viele Individuen und Lust am Individuellen giebt. Von diesem Standpuncte aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein Fortschritt gegen den Glauben und als Zeichen dafur, dass der Intellect unabhangiger wird und sein Recht haben will. Ueber Corruption klagen dann die Verehrer der alten Religion und Religiositat, — sie haben bisher auch den Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglauben eine uble Nachrede selbst bei den freiesten Geistern gemacht. Lernen wir, dass er ein Symptom der Aufklarung ist. — Zweitens beschuldigt man eine Gesellschaft, in der die Corruption Platz greift, der Erschlaffung: und ersichtlich nimmt in ihr die Schatzung des Krieges und die Lust am Kriege ab, und die Bequemlichkeiten des Lebens werden jetzt eben so heiss erstrebt, wie ehedem die kriegerischen und gymnastischen Ehren. Aber man pflegt zu ubersehen, dass jene alte Volks-Energie und Volks-Leidenschaft, welche durch den Krieg und die Kampfspiele eine prachtvolle Sichtbarkeit bekam, jetzt sich in unzahlige Privat- Leidenschaften umgesetzt hat und nur weniger sichtbar geworden ist; ja, wahrscheinlich ist in Zustanden der» Corruption «die Macht und Gewalt der jetzt verbrauchten Energie eines Volkes grosser, als je, und das Individuum giebt so verschwenderisch davon aus, wie es ehedem nicht konnte, — es war damals noch nicht reich genug dazu! Und so sind es gerade die Zeiten der» Erschlaffung«, wo die Tragodie durch die Hauser und Gassen lauft, wo die grosse Liebe und der grosse Hass geboren werden, und die Flamme der Erkenntniss lichterloh zum Himmel aufschlagt. — Drittens pflegt man, gleichsam zur Entschadigung fur den Tadel des Aberglaubens und der Erschlaffung, solchen Zeiten der Corruption nachzusagen, dass sie milder seien und dass jetzt die Grausamkeit, gegen die altere glaubigere und starkere Zeit gerechnet, sehr in Abnahme komme. Aber auch dem Lobe kann ich nicht beipflichten, ebensowenig als jenem Tadel: nur so viel gebe ich zu, dass jetzt die Grausamkeit sich verfeinert, und dass ihre alteren Formen von nun an wider den Geschmack gehen; aber die Verwundung und Folterung durch Wort und Blick erreicht in Zeiten der Corruption ihre hochste Ausbildung, — jetzt erst wird die Bosheit geschaffen und die Lust an der Bosheit. Die Menschen der Corruption sind witzig und verlaumderisch; sie wissen, dass es noch andere Arten des Mordes giebt, als durch Dolch und Ueberfall, — sie wissen auch, dass alles Gutgesagte geglaubt wird. — Viertens: wenn» die Sitten verfallen«, so tauchen zuerst jene Wesen auf, welche man Tyrannen nennt: es sind die Vorlaufer und gleichsam die fruhreifen Erstlinge der Individuen. Noch eine kleine Weile: und diese Frucht der Fruchte hangt reif und gelb am Baume eines Volkes, — und nur um dieser Fruchte willen gab es diesen Baum! Ist der Verfall auf seine Hohe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen ebenfalls, so kommt dann immer der Casar, der Schluss-Tyrann, der dem ermudeten Ringen um Alleinherrschaft ein Ende macht, indem er die Mudigkeit fur sich arbeiten lasst. Zu seiner Zeit ist gewohnlich das Individuum am reifsten und folglich die» Cultur «am hochsten und fruchtbarsten, aber nicht um seinetwillen und nicht durch ihn: obwohl die hochsten Cultur-Menschen ihrem Casar damit zu schmeicheln lieben, dass sie sich als sein Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, dass sie Ruhe von Aussen nothig haben, weil sie ihre Unruhe und Arbeit in sich haben. In diesen Zeiten ist die Bestechlichkeit und der Verrath am grossten: denn die Liebe zu dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel machtiger, als die Liebe zum alten, verbrauchten, todtgeredeten» Vaterlande«; und das Bedurfniss, sich irgendwie gegen die furchtbaren Schwankungen des Gluckes sicherzustellen, offnet auch edlere Hande, sobald ein Machtiger und Reicher sich bereit zeigt, Gold in sie zu schutten. Es giebt jetzt so wenig sichere Zukunft: da lebt man fur heute: ein Zustand der Seele, bei dem alle Verfuhrer ein leichtes Spiel spielen, — man lasst sich namlich auch nur» fur heute «verfuhren und bestechen und behalt sich die Zukunft und die Tugend vor! Die Individuen, diese wahren An- und Fur-sich's, sorgen, wie bekannt, mehr fur den Augenblick, als ihre Gegensatze, die Heerden-Menschen, weil sie sich selber fur ebenso unberechenbar halten wie die Zukunft; ebenso knupfen sie sich gerne an Gewaltmenschen an, weil sie sich Handlungen und Auskunfte zutrauen, die bei der Menge weder auf Verstandniss noch auf Gnade rechnen konnen, — aber der Tyrann oder Casar versteht das Recht des Individuums auch in seiner Ausschreitung und hat ein Interesse daran, einer kuhneren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die Hand zu bieten. Denn er denkt von sich und will uber sich gedacht haben, was Napoleon einmal in seiner classischen Art und Weise ausgesprochen hat:»ich habe das Recht, auf Alles, woruber man gegen mich Klage fuhrt, durch ein ewiges» Das-