heftig zu klopfen, wahrend er das Glas austrank. Er wu?te, da? ihm wieder eine dieser entsetzlichen Nachte bevorstand. Verzweifelt versuchte er, die Gedanken loszuwerden, die in ihm aufstiegen. Er verkroch sich unter der Bettdecke und hoffte, rasch einschlafen zu konnen, doch schon begann es in seinem Kopf zu kreisen und zu wirbeln, immer rundherum, rundherum ... Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — NURNBERG! — NURNBERG! NURNBERG! NURNBERG! »Kommen Sie vor und nennen Sie Ihren Namen ...«

»Bruce Sutherland, Brigadegeneral, Kommandeur des ...«

»Zeuge, schildern Sie dem Gericht, aus eigener Anschauung ...« »Am 15. April, zwanzig Minuten nach funf Uhr abends, ruckten Teile der mir unterstellten Truppe in Bergen-Belsen ein.«

»Schildern Sie, aus eigener Anschauung ...«

»Lager Eins war ein abgesperrter Raum von rund sechshundert Meter Breite und dreihundert Meter Lange. Auf diesem Raum befanden sich achtzigtausend Menschen, osteuropaische Juden.« »Schildern Sie dem Gericht ...«

»Die Verpflegungsration fur das Lager Nummer Eins bestand aus zehntausend Broten pro Woche.«

»Konnen Sie dem Gericht sagen ...«

»Ja, das sind Hodenklemmen und Daumenschrauben, wie sie bei Folterungen verwendet wurden ...«

»Schildern Sie ...«

»Eine von uns durchgefuhrte Zahlung ergab im Lager Eins drei?igtausend Tote, von denen fast dreizehntausend als Leichen am Boden herumlagen. Achtundzwanzigtausend Frauen und zwolftausend Manner befanden sich noch am Leben.«

»SCHILDERN SIE ... !«

»Wir unternahmen alles, was in unseren Kraften stand, doch die Uberlebenden waren durch Hunger und Krankheit so geschwacht, da? innerhalb weniger Tage nach unserem Eintreffen weitere dreizehntausend starben.«

»SCHILDERN SIE ... !«

»Die Zustande, die wir im Lager vorfanden, waren nicht mehr menschlich.«

Bruce Sutherland hatte kaum seine Zeugenaussage in Nurnberg beendet, als er eine dringende Aufforderung erhielt, sofort nach London zuruckzukehren. Diese Aufforderung kam von einem langjahrigen guten Freund im Kriegsministerium, General Sir Clarence Tevor-Browne. Sutherland ahnte, da? es sich um etwas Ungewohnliches handeln mu?te.

Er flog am nachsten Tag nach London und begab sich unverzuglich zu dem riesigen Gebaude an der Ecke von White Hall und Great Scotland Yard, in dem sich das Kriegsministerium befand.

»Da sind Sie ja, Bruce! Kommen Sie herein, mein Lieber, kommen Sie! Schon, da? Sie da sind. Ich habe Ihre Zeugenaussage in Nurnberg verfolgt. Kein sehr schones Geschaft.«

»Ich bin froh, da? ich es hinter mir habe«, sagte Sutherland.

»Hat mir so leid getan, das von Ihnen und Neddie zu horen. Falls ich irgend etwas fur Sie tun kann ...«

Sutherland schuttelte den Kopf.

Schlie?lich kam Tevor-Browne damit heraus, weshalb er ihn gebeten hatte, nach London zu kommen. »Horen Sie, Bruce«, sagte er, »ich habe Sie hergebeten, weil sich eine Aufgabe ergeben hat, die sehr viel Fingerspitzengefuhl erfordert. Ich soll einen geeigneten Mann dafur empfehlen, und ich mochte gern Sie dafur vorschlagen. Ich wollte die Sache aber vorher mit Ihnen besprechen.«

»Ich hore, Sir Clarence.«

»Bruce, diese Juden, die aus Europa abwandern, stellen fur uns ein ernstliches Problem dar. Sie uberschwemmen Palastina. Die Araber sind sehr beunruhigt uber diese Einwanderungsmassen, die in das Mandatsgebiet kommen. Wir haben deshalb beschlossen, auf Zypern Internierungslager zu errichten, in denen diese Leute zuruckgehalten werden. Jedenfalls ist das eine vorlaufige Ma?nahme, bis White Hall beschlie?t, wie wir uns in der Frage des Palastina-Mandats verhalten wollen.«

»Ich verstehe«, sagte Sutherland leise.

»Das Ganze ist eine sehr kitzlige Angelegenheit«, fuhr Tevor Browne fort, »und erfordert eine sehr behutsame Behandlung. Kein Mensch hat den Wunsch, einen armen Haufen geschlagener Fluchtlinge zusammenzutreiben und einzusperren, und man mu? auch bedenken — nun ja, Tatsache ist, da? diese Leute sich hoher und hochster Sympathie erfreuen, besonders in Frankreich und Amerika. Die geplanten Ma?nahmen auf Zypern durfen naturlich keinerlei Staub aufwirbeln. Wir mochten, ja wir mussen unbedingt alles vermeiden, was die offentliche Meinung gegen uns aufbringen konnte.«

Sutherland ging zum Fenster, blickte auf das Wasser der Themse und sah den gro?en, zweistockigen Autobussen zu, die uber die Waterloo-Brucke fuhren. »Ich halte diese ganze Idee fur verkehrt«, sagte er.

»Daruber haben wir beide nicht zu entscheiden, Bruce. White Hall erteilt die Befehle. Wir fuhren sie nur aus.«

Sutherland sah noch immer zum Fenster hinaus. »Ich habe die Menschen in Bergen-Belsen gesehen«, sagte er. »Wahrscheinlich sind es dieselben, die jetzt nach Palastina zu kommen versuchen.« Er schritt zuruck zu seinem Stuhl. »Seit drei?ig Jahren haben wir in Palastina diesen Leuten gegenuber ein Versprechen nach dem anderen gebrochen.«

»Sehen Sie, Bruce«, sagte Tevor-Browne, »Sie und ich, wir machen uns in dieser Sache nichts vor, doch wir sind in der Minderheit. Wir beide haben zusammen im Nahen Osten gedient. Und jetzt will ich Ihnen mal was erzahlen, mein Lieber. Ich habe im Krieg hier an diesem Schreibtisch gesessen und erlebt, wie aus dem arabischen Raum eine Verratsmeldung nach der anderen kam: Wie der agyptische Generalstab Kriegsgeheimnisse an die Deutschen verkaufte, wie Kairo festlich geschmuckt war, um Rommel als Befreier zu empfangen, wie die Iraker sich auf die Seite der Deutschen schlugen, wie die Syrier ubergingen zu den Deutschen, wie der Mufti von Jerusalem sich als Agent der Nazis betatigte. Und so konnte ich Ihnen noch stundenlang weitererzahlen. Sie mussen aber auch bedenken, wie die Sache fur White Hall aussieht, Bruce. Wir konnen nicht riskieren, wegen einiger tausend Juden unser Ansehen und unsern Einflu? im ganzen Nahen Osten zu verlieren.« »Und gerade das ist von all unseren Irrtumern der tragischste, Sir Clarence«, sagte Sutherland. »Wir werden den Nahen Osten auch so verlieren.«

»Sie sind ja ganz aufgeregt, Bruce.«

»Es gibt schlie?lich so etwas wie Recht und Unrecht.«

General Sir Clarence Tevor-Browne schuttelte mit einem bitteren Lacheln den Kopf. »Ich habe in meinem Leben sehr wenig gelernt, Bruce, aber das eine habe ich doch begriffen: die Au?enpolitik dieses oder irgendeines anderen Landes beruht nicht auf Recht oder Unrecht. Recht und Unrecht? Es ist nicht Ihre und nicht meine Sache, zu erortern, wie es in diesem besonderen Falle mit der Frage von Recht oder Unrecht steht. Das einzige Reich, das auf Rechtschaffenheit beruht, ist das Himmelreich. Die Herrschaft der Welt beruht auf dem Ol. Und die Araber haben Ol.«

Bruce Sutherland schwieg. Dann nickte er und wiederholte: »Nur das Reich Gottes beruht auf Gerechtigkeit, die Herrschaft der Welt beruht auf dem Ol. Das ist eine wichtige Erkenntnis, Sir Clarence. In diesen beiden Satzen scheint das ganze Leben enthalten zu sein. Wir alle — Menschen wie Volker — leben nach dem Gesetz der Notwendigkeit, nicht nach dem der Wahrheit.«

Tevor-Browne kam in seinem Stuhl nach vorn. »Irgendwo in seinem Weltenplan hat Gott uns fur die schwierige Aufgabe vorgesehen, die Verantwortung fur ein Empire zu tragen —.«

»Und es steht uns nicht zu, nach dem Warum zu fragen«, sagte Sutherland leise. »Nur, ich kann diese Sklavenmarkte in SaudiArabien nicht vergessen, auch nicht den Augenblick, als ich das erstemal aufgefordert wurde, zuzusehen, wie einem Mann, der gestohlen hatte, zur Strafe die Hande abgehackt wurden — und ebensowenig kann ich diese Juden in Bergen-Belsen vergessen.«

»Es ist nicht besonders gut, Soldat zu sein und ein Gewissen zu haben. Ich will Sie nicht zwingen, diesen Posten in Zypern anzunehmen.«

»Ich gehe hin. Selbstverstandlich gehe ich hin. Nur, sagen Sie mir bitte — weshalb fiel Ihre Wahl gerade auf mich?«

»Die meisten von unseren Leuten sind pro-arabisch eingestellt, und zwar aus dem Grund, weil wir schon von jeher pro-arabisch gewesen sind und weil einem Militar nicht viel anderes ubrigbleibt, als sich nach der Politik zu richten. Ich mochte nicht gern jemanden nach Zypern schicken, der diesen Fluchtlingen gegenuber vielleicht feindlich eingestellt ware. Es handelt sich um eine Aufgabe, die Verstandnis und Mitgefuhl verlangt.«

Sutherland stand auf. »Ich mu? manchmal denken«, sagte er, »da? es beinahe ebensosehr ein Fluch ist, als Englander auf die Welt zu kommen, wie ein Jude zu sein.«

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