schwer, mir vorzustellen, da? alle Leute hier, Busfahrer, Kellner und Kaufleute, da? sie alle Juden sind. Die ganze Stadt haben sie gebaut, eine judische Stadt. Du kannst gar nicht verstehen, was das bedeutet, oder? Eine ganze Stadt, in der alles den Juden gehort.«
Kitty war nicht so ganz einverstanden mit dem, was Karen sagte. »Bei uns in Amerika gibt es viele einflu?reiche Juden, Karen«, sagte sie, »und diese Juden sind sehr glucklich und fuhlen sich ganz als Amerikaner.«
»Aber das ist doch nicht dasselbe wie ein ganzes judisches Land. Es ist etwas anderes, zu wissen, da? es eine Ecke auf dieser Erde gibt, wo man immer willkommen ist, ein Fleckchen, das einem immer gehort, wohin man auch geht und was man auch tut.« Kitty sagte nichts, sondern holte aus ihrer Handtasche einen zerknitterten Zettel heraus, den sie langsam entfaltete. »Kannst du mir sagen, wo das ist?«
Karen sah auf den Zettel. »Zwei Querstra?en weiter. Wann wirst du endlich lernen, Hebraisch zu lesen?«
»Ich furchte nie«, sagte Kitty, und fugte dann rasch hinzu: »Ich habe mir gestern beinahe zwei Zahne ausgebissen, als ich versuchte, ein paar Worte auf Hebraisch zu sagen.«
Sie fanden den auf dem Zettel angegebenen Laden. Es war ein Modesalon.
»Was willst du dir kaufen?« fragte Karen.
»Ich habe vor, dir etwas Vernunftiges zum Anziehen zu kaufen. Das ist ein Geschenk fur dich von Brigadier Sutherland und mir.«
Karen erstarrte. »Das kann ich nicht annehmen«, sagte sie.
»Aber warum denn nicht, Karen?«
»Ich habe an dem, was ich anhabe, gar nichts auszusetzen.«
»Ja«, sagte Kitty, »fur Gan Dafna ist das ja auch ganz in Ordnung
»Ich habe alles, was ich brauche«, sagte Karen.
Sie redet manchmal genauso wie Jordana, dachte Kitty. »Hor mal, Karen — wir wollen doch nicht ganz vergessen, da? du inzwischen eine junge Dame geworden bist. Du wirst der guten Sache gewi? nicht untreu, wenn du dich ab und zu auch einmal ein bi?chen nett anziehst. Wenn du nicht in Gan Dafna bist, sondern mit mir und Bruce ausgehst, dann mochten wir gern ein bi?chen stolz auf dich sein konnen.«
Karen schielte heimlich auf die Modepuppen in den Schaufenstern. »Es ist nicht fair gegenuber den andern Madchen«, sagte sie in einem letzten Versuch der Gegenwehr.
»Wir konnen die Kleider ja unter den Gewehren verstecken, wenn dich das trostet.«
Wenige Augenblicke spater drehte sich Karen entzuckt vor dem Spiegel, glucklich und sehr froh daruber, da? Kitty ihren Willen durchgesetzt hatte. Alles fuhlte sich so wunderbar an und sah so wunderschon aus! Wie lange war es her, da? sie so hubsche Sachen angehabt hatte? In Danemark — vor so langer Zeit, da? sie es fast vergessen hatte. Kitty war genauso entzuckt, wahrend sie zusah, wie sich Karen aus einem Madchen vom Lande in einen geschmackvoll gekleideten Teenager verwandelte. Sie gingen die ganze Allenby-Road entlang, machten weitere Einkaufe und bogen schlie?lich, mit Paketen beladen, beim Mograbi-Platz in die Ben-Yehuda-Stra?e ein. Glucklich und erschopft lie?en sie sich in dem ersten BoulevardCafe an einem Tisch nieder. Karen verschlang ein gro?es Eis und beobachtete mit gro?en Augen den vorbeiflutenden Strom der Passanten.
»Das ist der schonste Tag meines Lebens«, sagte sie. »Nur schade, da? Dov und Ari nicht hier sind.«
Kitty war geruhrt. Das Madchen hatte ein so gutes Herz, dachte sie; immer hatte sie nur den Wunsch, anderen Gutes zu tun. Karen hatte ihren Eisbecher geleert und wurde nachdenklich. »Manchmal denke ich, was wir doch fur ein Pech haben — wir mit unseren beiden sauren Zitronen.«
»Wir?«
»Na, du wei?t schon — du mit Ari, und ich mit Dov.«
»Ich wei? wirklich nicht, wie du auf die Idee kommst, es konnte zwischen Mr. Ben Kanaan und mir irgend etwas sein. Jedenfalls bist du ganz und gar im Irrtum.«
»Ha, ha, ha«, antwortete Karen. »Und weshalb hast du dir, bitte, den Hals verrenkt bei jedem Wagen, der gestern zur Schawuotfeier nach Gan Dafna kam? Nach wem hast du denn Ausschau gehalten, wenn nicht nach Ari ben Kanaan?«
Kitty nahm einen Schluck von ihrem Kaffee, um ihre Verlegenheit zu verbergen.
Karen wischte sich die Lippen ab und zuckte mit den Achseln. »Mein Gott, das kann doch jeder sehen, da? du in ihn verliebt bist.« Kitty sah Karen aus schmalen Augen an. »Horen Sie mal, Sie kluge junge Dame —.«
»Versuche es nur zu leugnen — dann laufe ich auf die Stra?e und rufe es den Leuten laut auf Hebraisch zu.«
Kitty hob die Hande hoch. »Ich gebe es auf, mit dir zu streiten. Aber du wirst eines Tages begreifen, da? ein Mann fur eine Frau von Drei?ig sehr attraktiv sein kann, ohne da? das auch nur im geringsten etwas Ernsthaftes zu bedeuten hat. Ich finde Ari sehr nett, aber deine romantischen Ideen mu? ich leider zerstoren.«
Karen sah Kitty mit einem Blick an, der deutlich erkennen lie?, da? sie ihr ganz einfach nicht glaubte. Sie seufzte, beugte sich zu Kitty und fa?te sie am Arm, als ware sie im Begriff, ihr ein tiefes Geheimnis mitzuteilen. »Ari braucht dich, das wei? ich«, sagte sie mit dem bedeutsamen Ernst des Teenagers.
Kitty streichelte Karens Hand und ordnete eine Strahne, die sich im Zopf des Madchens gelockert hatte. »Ich wollte, ich ware noch einmal Sechzehn, und alles ware so klar und einfach, wie es einem in diesem Alter scheint. Nein, Karen, Ari ben Kanaan gehort zu einer Sorte ubermenschlicher Wesen, deren entscheidendes Kapital darin besteht, da? sie sich auf sich selbst verlassen konnen. Ari ben Kanaan hat keinen anderen Menschen mehr notig gehabt, seit er als Junge mit dem Ochsenziemer seines Vaters umzugehen lernte. Sein Blut besteht nicht wie bei uns aus roten und wei?en Blutkorperchen, sondern aus Stahl und Eisen, und sein Herz ist eine Pumpe, wie der Motor von dem Autobus da druben. Durch all das steht er oberhalb und au?erhalb der Gefuhle, von denen die anderen Sterblichen bewegt und beherrscht werden.«
Kitty verstummte. Sie sa? unbeweglich da, und ihr Blick ging durch Karen hindurch.
»Du hast ihn sehr lieb.«
»Ja«, sagte Kitty seufzend, »das habe ich. Und was du vorher gesagt hast, stimmt. Wir haben wirklich ein paar saure Zitronen erwischt. Und jetzt mussen wir zuruck zum Hotel. Ich mochte, da? du dich umziehst und dich fur mich so hubsch machst wie eine Prinzessin. Bruce und ich haben eine Uberraschung fur dich. Die Zopfe wollen wir auch mal weglassen.«
Karen sah wirklich wie eine Prinzessin aus, als Sutherland die beiden zum Essen abholte. Die Uberraschung war ein Besuch des Habima-Nationaltheaters, in dem an diesem Abend ein franzosisches Ballett auftrat, das sich auf einer Gastspielreise befand und das vom Philharmonischen Orchester von Tel Aviv begleitet wurde. Wahrend der ganzen Vorstellung von Schwanensee sa? Karen auf der vordersten Kante ihres Platzes und verfolgte mit gespannter Aufmerksamkeit jeden Schritt der Primaballerina, die uber die Buhne schwebte. Karen war von der Schonheit und der marchenhaften Szenerie fasziniert und uberwaltigt.
Wie schon war das alles, dachte Karen. Sie hatte fast vergessen gehabt, da? es auf dieser Welt noch solche Dinge wie ein Ballett gab. Und was fur ein Gluck, einen Menschen wie Kitty Fremont zu haben. Freudentranen liefen ihr uber das Gesicht.
Kitty hatte kaum Augen fur das Ballett, so gespannt beobachtete sie Karen. Sie spurte, da? es ihr gelungen war, in dem Madchen etwas zu wecken, das in ihr geschlafen hatte. Karen schien etwas wiederzuentdecken, das fruher einmal die Welt fur sie bedeutet hatte und das ebenso wichtig war wie das Grun der Felder von Galilaa. Kitty fa?te erneut den Entschlu?, dies in Karen immer lebendig zu erhalten.
Morgen sollte Karen ihren Vater sehen, und dann wurde ihr Leben vielleicht in eine andere Richtung gehen.
Es war schon spat, als sie zum Hotel zuruckkamen. Karen war au?er sich vor Gluck. Sie ri? die Tur des Hotels auf und schwebte tanzend durch die Halle. Die englischen Offiziere, die in der Halle sa?en, machten erstaunte Augen. Kitty schickte Karen zu Bett; sie selbst traf Sutherland an der Bar, um vor dem Schlafengehen noch ein Glas zu trinken.
»Haben Sie ihr schon von ihrem Vater erzahlt?«
»Nein.«
»Mochten Sie, da? ich mitkomme?«
»Ich mochte lieber allein mit ihr hingehen.«
»Naturlich, das verstehe ich.«
»Aber ich ware Ihnen dankbar, wenn Sie hinterher da waren.«