Welt gibt. Und wann ist wieder Karneval?
Karen musterte den Mann, der da sa?, von den nackten Fu?en bis zu seiner narbenbedeckten Stirn. Sie entdeckte nichts — nicht das geringste, das sie an ihren Vater erinnerte —.
»Jude! Jude! Jude!« schrie der Mob hinter ihr her, wahrend sie mit blutuberstromtem Gesicht nach Hause rannte. »Aber, aber, Karen, nun wein doch nicht. Dein Pappi ist ja da, und er wird dafur sorgen, da? dir niemand etwas tut.«
Karen streckte die Hand aus und beruhrte die Wange des Mannes. »Pappi?« sagte sie. Der Mann ruhrte sich nicht und reagierte auch sonst nicht.
Da war ein Zug, und viele Kinder, und es hie?, sie wurden nach Danemark fahren, aber Karen war mude. »Auf Wiedersehen, Pappi«, hatte sie gesagt. »Hier, nimm du meine Puppe. Sie wird auf dich aufpassen.« Sie stand hinten auf der Plattform des letzten Wagens und sah zu ihrem Pappi hin, der auf dem Bahnsteig stand und kleiner und kleiner wurde.
»Pappi! Pappi!« rief Karen. »Ich bin's, Pappi! Karen, dein kleines Madchen! Ich bin inzwischen ein gro?es Madchen geworden, Pappi. Kennst du mich denn gar nicht mehr?«
Der Arzt hielt Kitty fest, die an der Tur stand und am ganzen Leib zitterte. »Bitte«, rief Kitty, »lassen Sie mich ihr helfen.«
»Lassen Sie das Madchen damit fertig werden«, sagte der Arzt. Und in Karen stieg die Erinnerung auf. »Ja!« rief sie. »Ja, das ist mein Vater! Es ist wirklich mein Vater!«
»Vater!« rief sie und schlang ihre Arme um ihn. »Bitte, sprich mit mir. Sag doch etwas zu mir. Ich bitte dich — bitte dich!«
Der Mann, der fruher einmal Johann Clement gewesen war, zwinkerte mit den Augen. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck neugieriger Uberraschung, als er wahrnahm, da? sich jemand an ihn klammerte. Einen Augenblick lang blieb dieser uberraschte Ausdruck auf seinem Gesicht, als versuchte er, die Finsternis seiner geistigen Umnachtung zu durchdringen — doch dann sank er wieder in den Ausdruck der Leblosigkeit zuruck.
»Vater!« rief Karen. »Vater! Vater!«
Und in dem leeren Raum und durch den langen Korridor ertonte das Echo ihrer Stimme: Vater!
Die starken Arme des Arztes losten Karen aus der Umklammerung, und mit sanfter Gewalt wurde sie hinausgefuhrt. Die Tur wurde zugemacht und abgeschlossen, und Johann Clement war aus Karens Leben verschwunden, fur immer.
Karen schluchzte verzweifelt und barg sich in Kittys Armen. »Er hat mich nicht einmal erkannt! O mein Gott — Gott — warum hat er mich nicht erkannt? Sag es mir, Gott — sag es mir!«
»Sei ruhig, Kleines, es wird alles wieder gut. Kitty ist ja da.«
»Bleib bei mir, Kitty, la? mich nie mehr allein!«
»Nein, mein Kleines — ich bleibe bei dir — Kitty wird immer bei dir bleiben.«
IX.
Die Kunde von Karens Vater war nach Gan Dafna gedrungen, noch ehe sie und Kitty dorthin zuruckgekehrt waren. Auf Dov Landau hatte die Nachricht eine erschutternde Wirkung. Zum erstenmal seit jenem Tage, da ihn sein Bruder Mundek in dem Bunker unter dem Warschauer Ghetto in seinen Armen gehalten hatte, war es Dov Landau moglich, fur einen anderen als sich selbst Mitleid zu empfinden. Seine Sorge um Karen Clement war der Lichtstrahl, der endlich seine finstere Welt erhellte.
Sie war der einzige Mensch, zu dem er Vertrauen besa?, fur den er Zuneigung empfand. Warum mu?te ausgerechnet ihr dies geschehen? Wie oft hatte ihm Karen in dem Lager auf Zypern gesagt, da? sie fest davon uberzeugt war, ihren Vater wiederzufinden. Der schwere Schlag, der Karen jetzt getroffen hatte, bereitete auch ihm tiefen Schmerz.
Wen hatte sie nun noch auf dieser Welt? Ihn und Mrs. Fremont. Und was bedeutete er fur sie? Er war eine Last — ein Nichts. Zuweilen wunschte er, Mrs. Fremont hassen zu konnen; doch das konnte er nicht, weil er wu?te, da? es fur Karen gut war, Mrs. Fremont zu haben. Da Karens Vater jetzt nicht mehr im Wege stand, wurde Mrs. Fremont sie vielleicht nach Amerika mitnehmen. Doch er stand noch im Wege. Er wu?te genau, da? Karen ihn nicht allein lassen wurde. Deshalb gab es fur ihn nur einen Weg.
In Gan Dafna war ein Junge namens Mordechai als heimlicher Werber fur die Makkabaer tatig. Von ihm erfuhr Dov, wo und wie er sich mit dieser Organisation in Verbindung setzen konnte.
Die Turen der Bungalows, in denen die Angehorigen des Lehrpersonals in Gan Dafna wohnten, waren nie abgeschlossen. Dov wartete eines Abends, bis alle zum Essen gegangen waren, und machte dann einen Raubzug durch mehrere Wohnungen. Er stahl einige Ringe und Schmuckstucke und floh nach Jerusalem.
Bruce Sutherland begab sich unverzuglich zu Dr. Liebermann und bat ihn, Kitty dringend nahezulegen, da? sie mit Karen fur ein oder zwei Wochen zu ihm in seine Villa kame, bis sich das Madchen einigerma?en von seinem Schock erholt hatte.
Zusammen mit dem Verschwinden von Dov Landau wirkte sich das Schicksal von Karens Vater als trauriger Sieg fur Kitty aus. Sie fuhlte, da? sie Karen in kurzer Zeit dazu bewegen konnte, mit ihr nach Amerika zu gehen. Kitty mu?te, wahrend sie mit Karen bei Sutherland war, dauernd daran denken. Sie fand sich selbst abscheulich, weil sie in Karens tragischem Ungluck ihren Vorteil suchte; doch sie konnte ihren Gedanken nicht verbieten, sich damit zu beschaftigen. Seit sie Karen damals in dem Zelt in Caraolos zum erstenmal gesehen hatte, war dieses Madchen der Mittelpunkt geworden, um den ihr ganzes Leben kreiste.
Eines Tages nach dem Mittagessen kam Ari ben Kanaan zu Sutherland. Er wartete im Arbeitszimmer, wahrend der Dienstbote Sutherland aus dem Garten holte. Bruce bat Kitty und Karen, die in der Sonne lagen, ihn einen Augenblick zu entschuldigen. Die beiden Manner sprachen fast eine Stunde lang miteinander uber einen Auftrag, den Ari fur Sutherland hatte.
»Ich habe ubrigens eine gute Bekannte von Ihnen bei mir«, sagte Sutherland, nachdem sie ihr Gesprach beendet hatten. »Kitty Fremont ist mit der kleinen Clement fur vierzehn Tage bei mir zu Gast.«
»Ich habe schon gehort, da? Sie und Mrs. Fremont dicke Freunde geworden sind«, sagte Ari.
»Ja«, sagte Sutherland, »ich halte Katherine Fremont fur eine der gro?artigsten Frauen, die ich jemals kennengelernt habe. Sie sollten nach Gan Dafna fahren und sich ansehen, was sie dort mit einigen der Kinder fertiggebracht hat. Da war ein Junge, der vor sechs Monaten uberhaupt kein Wort sprach, und jetzt hat er nicht nur seine Stummheit verloren, sondern er hat sogar angefangen, als Hornist im Schulorchester mitzuspielen.«
»Auch davon habe ich schon gehort«, sagte Ari.
»Ich habe darauf bestanden, da? sie mit Karen Clement hierher zu mir kam. Die Kleine hat ihren Vater wiedergefunden. Der arme Kerl ist vollig und unheilbar geistesgestort. Ein entsetzlicher Schock fur die Tochter. Kommen Sie mit in den Garten.«
»Tut mir leid — ich habe noch Verschiedenes zu erledigen.« »Unsinn, davon will ich nichts horen.« Er hakte Ari unter und fuhrte ihn hinaus.
Kitty hatte Ari seit Wochen nicht mehr gesehen. Sie erschrak bei seinem Anblick. Ari sah schlecht aus.
Kitty war erstaunt, wie sanft und gutig Ari seinem Mitgefuhl fur Karen Ausdruck gab. Er war dem Madchen gegenuber von einer
Zartheit und Besorgtheit, deren sie ihn nie fur fahig gehalten hatte. War es, weil Karen eine Judin war und sie nicht? Sie hatte er nie so zartlich behandelt! Doch schon im nachsten Augenblick argerte sich Kitty uber solche Gedanken. Begann sie wirklich schon, jedes Wort und jede Geste in einer Bedeutung zu sehen, die ihnen gar nicht zukam? Unsinn!
Kitty und Ari gingen zusammen durch Sutherlands Rosengarten. »Wie nimmt sie es?« fragte Ari.
»Sie ist sehr tapfer und von einer sehr gro?en inneren Kraft«, sagte Kitty. »Es war ein schreckliches Erlebnis fur sie, aber sie tragt es mit einer bemerkenswerten Haltung.«
Ari wandte den Kopf und sah zu Karen zuruck, die mit Sutherland Dame spielte. »Sie ist wirklich ein wunderschones Madchen.«
Seine Worte uberraschten Kitty. Diesen Ton echter Ergriffenheit hatte sie noch nie bei ihm gehort, und oft hatte sie sich gefragt, ob er uberhaupt Sinn fur Schonheit besa?. Sie blieb am Ende des Weges an einer niedrigen Mauer stehen, die den Abschlu? des Gartens bildete. Kitty setzte sich auf die steinerne Mauer und sah hinaus auf das Land Galilaa, und Ari zundete sich und ihr eine Zigarette an.
»Ari, ich habe Sie noch nie um einen personlichen Gefallen gebeten, doch jetzt wurde ich es gern tun.«
»Aber bitte.«
»Uber die Sache mit ihrem Vater wird Karen im Laufe der Zeit hinwegkommen, aber da ist noch etwas