Volksversammlung. Ihr habt uber diese Sache strengstes Stillschweigen zu bewahren. Keine unnotige Aufregung! Und jetzt verschwindet, alle miteinander. Ich habe eine Menge zu tun.«
Der Beschu? von Fort Esther war den ganzen Tag uber besonders heftig. Ari nahm sich jeden Abschnittsleiter einzeln vor, um die Evakuierung bis in jede Einzelheit genau zu besprechen und den zeitlichen Ablauf von Minute zu Minute festzulegen.
Die zwolf Leute, die Kenntnis von dem Plan hatten, gingen bedruckt und mit dusteren Befurchtungen herum. Tausend Dinge konnten schiefgehen. Es konnte jemand ausrutschen, die Hunde in Abu Yesha konnten sie horen oder riechen, Kassi konnte das Manover entdecken und alle Siedlungen im Hule-Tal angreifen, wenn er feststellte, da? sie ohne automatische Schnellfeuerwaffen geblieben waren.
Und doch war allen bewu?t, da? Ari kaum etwas anderes ubrigblieb. In einer Woche oder in zehn Tagen wurde die Lage in Gan Dafna ohnehin verzweifelt sein.
Am Abend teilte David ben Ami, der mit der Einsatzgruppe in Yad El bereitstand, durch einen verschlusselten Blinkspruch mit, da? er sich bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg machen werde. Die ganze Nacht hindurch arbeiteten sich die vierhundert Freiwilligen den steilen Hang hinauf und erreichten Gan Dafna kurz vor Morgengrauen, erschopft und entnervt durch die Anstrengung der Klettertour. Ari empfing sie au?erhalb des Ortes und fuhrte sie zu einem dichten Gebusch, in dem sie sich den Tag uber versteckt halten sollten. Kassis Leute sollten sie nicht sehen, und er wollte nicht, da? ihr Erscheinen in Gan Dafna irgendwelche vagen Vermutungen ausloste.
Den ganzen Tag uber hielten sich die Freiwilligen verborgen.
Zehn Minuten vor sechs Uhr, genau vierzig Minuten vor Sonnenuntergang: der entscheidende Teil des Unternehmens beginnt. Funf Minuten vor sechs: die Kinder, die evakuiert werden sollen, werden gefuttert. Jedes Kind trinkt mit seiner Milch ein Schlafmittel. Viertel nach sechs: die Kinder werden in ihren unterirdischen Schlafraumen zu Bett gebracht. Man la?t sie gemeinsam Lieder singen, bis sie, durch das Narkotikum betaubt, in einen tiefen Schlaf fallen.
Sechs Uhr zweiunddrei?ig: die Sonne geht hinter Fort Esther unter. Sechs Uhr vierzig: Ari ruft samtliche Angehorige des Stabs von Gan Dafna zu einer Besprechung vor den Schlafbunker der Kinder zusammen.
»Horen Sie bitte alle sehr genau zu«, sagte er mit zwingendem Ernst. »In einigen Minuten werden wir mit der Evakuierung der jungeren Kinder beginnen. Jeder von Ihnen wird namentlich aufgerufen und erhalt einen bestimmten Auftrag. Alles ist auf die Minute genau festgelegt, und die geringste Storung des planma?igen Ablaufs kann unter Umstanden sowohl das Leben der Kinder und ihrer Begleiter als auch Ihr eigenes Leben gefahrden. Ich wunsche keinerlei Diskussion. Ich werde gegen jeden, der sich nicht strikt an seinen Auftrag halt, drastische Ma?nahmen ergreifen.«
Sechs Uhr funf und vierzig: Jordana bat Kanaan stellt rund um Gan Dafna eine Wache auf, die aus allen zuruckbleibenden Kindern besteht. Diese Wache ist um das Vierfache starker als normalerweise. Gleichzeitig gehen Seew Gilboa und seine zwanzig Mann Palmach, die zum Schutz von Gan Dafna abkommandiert worden sind, mit einem Spezialauftrag zur Sicherung des Unternehmens auf das Gebirge vor.
Sobald die Meldung kommt, da? alle Posten des dichten Sicherungrings um die Siedlung an Ort und Stelle seien, begeben sich funfundzwanzig Angehorige des Stabes in die Bunker, um die schlafenden Kinder warm anzuziehen. Kitty geht von einem Kind zum andern und uberzeugt sich, da? das Schlafmittel gewirkt hat. Jedem Kind wird der Mund mit einem breiten Klebestreifen zugeklebt, damit es selbst im Schlaf nicht schreien kann.
Sieben Uhr drei?ig: die bewu?tlosen Kinder sind angezogen und transportbereit. Ari bringt die Einsatztruppe aus ihrem Versteck. Von den Schlafbunkern aus wird eine Kette gebildet, und die schlafenden Kinder werden eins nach dem andern herausgereicht. Aus Gurten hat man behelfsma?ige Tragsitze zusammengenaht, so da? die Manner die Kinder wie Rucksacke auf dem Rucken tragen konnen. Dadurch haben sie beide Hande frei fur das Gewehr, und um sich beim Abstieg zu stutzen.
Acht Uhr drei?ig: die zweihundertfunfzig Mann mit ihren kleinen schlummernden Bundeln auf dem Rucken werden einer letzten Kontrolle unterzogen. Man uberzeugt sich, da? die Kinder einwandfrei festgegurtet sind. Dann setzt sich die Reihe der Trager in Bewegung und zieht zum Haupteingang hinaus, wo das Sicherungskommando von einhundertfunfzig Mann mit automatischen Waffen bereitsteht. Unter Aris Fuhrung entfernen sie sich uber den Rand des Abhangs. Einer nach dem andern verschwindet langsam mit dem Kind auf dem Rucken im Dunkel der Nacht.
Die Zuruckbleibenden standen schweigend am Tor von Gan Dafna. Es gab fur sie jetzt nichts mehr zu tun, als den Morgen abzuwarten. Sie begaben sich langsam zuruck in die Bunker, um die Nacht schlaflos zu verbringen, stumm und bebend vor Angst um die Kinder und um das Schicksal dieses seltsamen Geleitzuges.
Kitty Fremont stand, als der Zug verschwunden war, noch uber eine Stunde lang allein drau?en am Tor und starrte in die Dunkelheit.
»Es wird heute eine sehr lange Nacht werden«, sagte eine Stimme hinter ihr, »und es ist kalt hier drau?en. Wollen Sie nicht lieber hineingehen?«
Kitty drehte sich um. Jordana stand vor ihr. Zum erstenmal, seit sie sie kennengelernt hatte, war Kitty wirklich froh, das rothaarige Sabre-Madchen zu sehen. Seit sie sich entschlossen hatte, in Gan Dafna zu bleiben, hatte sie in zunehmendem Ma?e Bewunderung fur Jordana empfunden. Denn Jordana trug die gro?te Verantwortung dafur, da? in Gan Dafna alles ruhig blieb. Sie hatte die Soldaten ihrer Gadna-Jugend mit einer Zuversichtlichkeit erfullt, die ansteckend wirkte; diese halben Kinder zeigten den kriegerischen Mut erprobter Veteranen. In allen Schwierigkeiten, die sich seit der Sperrung der Stra?e ergeben hatten, war Jordana unverandert ruhig und energisch geblieben. Fur eine junge Frau von noch nicht zwanzig war das eine schwere Burde. Doch Jordana vermittelte den Menschen in ihrer Umgebung ein Gefuhl der Sicherheit.
»Ja, es wird wirklich eine sehr lange Nacht werden«, sagte Kitty. »Dann konnten wir uns doch gegenseitig Gesellschaft leisten«, sagte Jordana. »Ich mu? Ihnen etwas verraten. Ich habe im Bunker eine halbe Flasche Cognak versteckt. Heute nacht ist die richtige Gelegenheit, sie auszutrinken. Hatten Sie Lust, in meinem Bunker auf mich zu warten? Ich mu? nur noch die Wachen hereinholen. In einer halben Stunde bin ich zuruck.«
Kitty stand unbeweglich. Jordana nahm ihren Arm. »Kommen Sie«, sagte sie freundlich drangend, »im Augenblick konnen wir sowieso nichts machen.«
Kitty hatte nervos im Kommandobunker gesessen und eine Zigarette nach der anderen geraucht, bis Jordana endlich von ihrem Rundgang zuruckgekommen war. Jordana nahm die braune Hagana-Mutze ab, und die langen roten Locken fielen ihr auf die Schultern. Sie rieb sich die vor Kalte erstarrten Hande und holte dann die Cognakflasche hervor, die sie an einer Stelle der Bunkerwand verborgen hatte, wo das Erdreich locker war. Sie wischte den Sand von der Flasche und schenkte Kitty und sich einen kraftigen Schluck ein.
»Le Chajim!« sagte Jordana und setzte das Glas an die Lippen.
»Ah, das tut gut.«
»Wie lange wird es dauern, bis sie an Abu Yesha vorbeikommen?« »Das wird erst nach Mitternacht sein«, antwortete Jordana.
»Ich habe mir immer wieder gesagt, da? alles gutgehen wird; doch nun fange ich an, an die tausend Dinge zu denken, die schiefgehen konnten.«
»Es ist unmoglich, nicht daran zu denken«, sagte Jordana. »Doch das steht jetzt in Gottes Hand.«
»In Gottes Hand?« sagte Kitty. »Ja, Gott vollbringt in diesem Lande wirklich besondere Dinge.«
»Wer hier in Palastina nicht religios wird, der wird es vermutlich nirgendwo«, sagte Jordana. »Ich kann mich nicht erinnern, da? wir uns jemals durch irgend etwas anderes als durch unseren Glauben am Leben erhalten hatten. Er ist unsere einzige Stutze.«
Diese Worte klangen seltsam aus dem Mund von Jordana bat Kanaan. Au?erlich schien Jordana nicht tief glaubig; doch was hatte ihr sonst die Kraft und Standhaftigkeit geben sollen, unter dieser bestandigen Spannung und Bedrohung zu leben, wenn nicht ihr unerschutterlicher Glaube?
»Kitty«, sagte Jordana plotzlich, »ich mu? Ihnen ein Gestandnis machen. Ich habe mir sehr gewunscht, da? wir beide Freunde werden.«
»So?« sagte Kitty. »Und warum, Jordana?«
»Weil ich etwas von Ihnen gelernt habe — etwas, woruber ich eine ganz falsche Ansicht hatte. Ich habe gesehen, wie Sie hier mit den Kindern gearbeitet haben, und ich wei?, was Sie fur Ari getan haben. Als Sie sich dazu entschlossen, in Gan Dafna zu bleiben, da ist mir etwas klargeworden. Ich begriff plotzlich, da? eine Frau wie Sie genausoviel Mut haben kann, wie — wie wir hier. Ich hatte immer geglaubt, Weiblichkeit sei ein Zeichen von Schwache.«