»Das ist lieb von Ihnen, Jordana«, sagte Kitty mit schwachem Lacheln. »Doch ich furchte, gerade heute nacht konnte ich recht gut ein bi?chen was von eurer Art von Mut gebrauchen. Ich habe das Gefuhl, da? ich drauf und dran bin, die Nerven zu verlieren.«
Kitty brannte sich eine Zigarette an, und Jordana schenkte ihr noch einen Cognak ein.
»Ich habe es mir uberlegt«, sagte Jordana. »Sie waren doch die richtige Frau fur Ari.«
Kitty schuttelte den Kopf. »Nein, Jordana«, sagte sie. »Wir sind, wie man bei uns sagt, zwei nette Leute, die aber nicht fureinander geschaffen sind.«
»Das ist wirklich schade, Kitty.«
Kitty sah auf ihre Uhr. Sie wu?te aus den Besprechungen, da? sich die Manner jetzt dem ersten fast senkrecht abfallenden Steilhang nahern mu?ten. Man wurde die Manner, die die Kinder auf dem Rucken trugen, anseilen und einen nach dem andern den Steilhang hinunterlassen. Es ging fast zehn Meter senkrecht nach unten. Vom Ende des Steilhangs wurden sie den Hang im lockeren Erdreich rund hundert Meter weit hinunterrutschen mussen.
»Erzahlen Sie mir ein bi?chen was von sich und David«, sagte Kitty hastig. »Wo habt ihr euch kennengelernt?«
»An der hebraischen Universitat. Ich lernte ihn am zweiten Tag kennen. Ich sah ihn, und er sah mich, und wir liebten uns vom ersten Augenblick an und haben nie aufgehort, uns zu lieben.«
»So war es auch bei meinem Mann und mir«, sagte Kitty.
»Ich brauchte naturlich das ganze erste Semester, um ihm klarzumachen, da? er mich liebte.«
»Bei mir dauerte es noch langer«, sagte Kitty lachelnd.
»Ja, Manner konnen in solchen Dingen schrecklich schwer von Begriff sein. Doch bis zum Sommer wu?te er sehr genau, zu wem er gehorte. Wir machten damals gemeinsam eine archaologische Expedition in die Negev- Wuste. Wir versuchten, den genauen Weg festzustellen, auf dem Moses mit den zehn Stammen durch die Wildnis von Zin und Paran gezogen war.«
»Die Gegend dort soll ziemlich verlassen sein.«
»Durchaus nicht«, sagte Jordana. »Man sto?t dort auf die Ruinen zahlreicher Stadte der Nabataer. Die Zisternen dieser Stadte enthalten noch immer Wasser. Wenn man Gluck hat, kann man alle moglichen Altertumer finden.«
»Das klingt aufregend.«
»Es ist aufregend«, sagte Jordana. »Doch es ist eine sehr muhsame Arbeit. David findet es wunderbar, Ausgrabungen zu machen. Er fuhlt sich uberall von der historischen Gro?e unseres Volkes umgeben. Es geht ihm damit genau wie so vielen anderen — und das ist der Grund, weshalb die Juden so tief mit diesem Land verbunden sind. David hat wunderbare Plane. Nach dem Krieg wollen wir beide wieder an die Universitat gehen. Ich werde meine Abschlu?prufung machen und David seinen Doktor, und dann wollen wir eine gro?e hebraische Stadt ausgraben. Er will die Ruinen von Chazor freilegen, der alten hebraischen Stadt hier im Hule-Tal. Das sind naturlich nur Traume. Dazu braucht man viel Geld — und Frieden.« Jordana lachte ironisch. »Frieden«, sagte sie, »das ist naturlich ein abstrakter Begriff, eine Illusion. Ich mochte wissen, wie das wohl sein mag — Frieden!«
»Vielleicht fanden Sie ihn langweilig.«
»Ich wei? nicht«, sagte Jordana. »Einmal im Leben wurde ich doch gern wissen wollen, wie Menschen unter normalen Verhaltnissen leben.«
»Wollen Sie auch reisen?«
»Reisen? Nein. Ich tue, was David tut, und gehe dorthin, wo David hingeht. Aber einmal, Kitty, mochte ich gern in die Welt hinaus. Mein ganzes Leben lang hat man mir erzahlt, da? unser gesamtes Dasein hier in Palastina beginnt und endet. Und doch — manchmal habe ich das Gefuhl, eingesperrt zu sein. Viele meiner Kameradinnen sind aus Palastina fortgegangen. Fruher oder spater sind sie wieder zuruckgekommen. Wir Sabres scheinen eine sonderbare Sorte von Menschen zu sein, deren Lebenszweck es ist, zu kampfen. Wir sind nicht imstande, uns anderswo einzugewohnen — doch die Frauen werden hier so rasch alt.«
Jordana unterbrach sich. »Es mu? am Cognak liegen«, sagte sie. »Sie wissen ja, die Sabres vertragen uberhaupt nichts.«
Kitty lachelte Jordana zu. Zum erstenmal verspurte sie Mitleid mit dem Madchen. Sie druckte ihre Zigarette aus und sah wieder auf ihre Uhr. Die Minuten schlichen dahin.
»Wo werden sie jetzt sein?« fragte sie.
»Noch immer an dem ersten Steilhang. Es dauert mindestens zwei Stunden, alle einzeln abzuseilen.«
Kitty stie? einen leisen Seufzer aus, und Jordana starrte vor sich hin. »Woran denken Sie?« fragte Kitty.
»Ich denke an David — und an die Kinder. In dem ersten Sommer damals in der Wuste fanden wir einen Friedhof, der mehr als viertausend Jahre alt war. Es gelang uns, das vollkommen erhaltene Skelett eines kleinen Kindes freizulegen. Vielleicht war es auf dem Weg in das Gelobte Land gestorben. David weinte, als er das Skelett sah. Er ist nun einmal so. Der Gedanke an die Belagerung von Jerusalem bedruckt ihn bei Tag und bei Nacht. Er wird bestimmt versuchen, irgend etwas Verzweifeltes zu unternehmen. Das wei? ich. — Wollen Sie sich nicht lieber hinlegen, Kitty? Es wird noch lange dauern, bis wir irgend etwas wissen.«
Kitty trank ihr Glas leer. Dann streckte sie sich auf dem Feldbett aus und schlo? die Augen. Im Geist sah sie die lange Reihe der Manner vor sich, die nacheinander am Seil den Abhang hinuntergelassen wurden, und die schlafenden Kinder, die auf ihrem Rucken hingen. Und dann sah sie Kassis Araber vor sich, die im Hinterhalt lauerten und darauf warteten, bis die Reihe der Trager in die Falle ging.
Es war ihr unmoglich, zu schlafen.
»Ich glaube, ich werde einmal zum Bunker von Dr. Liebermann hinubergehen und nachsehen, wie es dort aussieht.«
Sie zog eine dicke Jacke an und ging nach drau?en. Den ganzen Abend uber war von Fort Esther kein Schu? gefallen. Kitty kam ein erschreckender Gedanke: vielleicht hatte Mohammed Kassi irgend etwas erfahren und war mit der Mehrzahl seiner Leute aus Fort Esther abmarschiert. Das Ganze gefiel ihr nicht. Der Mond war viel zu hell, die Nacht zu klar und still. Ari hatte eine neblige Nacht abwarten sollen, um die Kinder fortzuschaffen. Kitty sah hinauf und konnte oben am Berg die Umrisse von Fort Esther ausmachen. Sie mussen es gesehen haben, dachte sie.
Sie betrat einen der Bunker des Lehrkorpers. Dr. Liebermann und die ubrigen Angehorigen des Stabes hockten auf ihren Kojen und starrten vor sich hin, von der Spannung wie gelahmt. Niemand sprach ein Wort. Es war so deprimierend, da? sie es nicht aushielt und wieder hinausging.
Karen und Dov standen Wache.
Kitty ging zuruck zu dem Kommandobunker, aber Jordana war nicht mehr da. Sie streckte sich wieder auf dem Feldbett aus und legte sich eine Wolldecke uber die Beine. Wieder erschien vor ihrem Geist das Bild der Manner, die muhsam Schritt fur Schritt den Abhang hinunterstiegen. Die Anspannung des Tages hatte ihre Krafte verbraucht. Sie versank in einen unruhigen Halbschlaf. Die Stunden verstrichen. Mitternacht — ein Uhr.
Kitty warf sich auf ihrem Lager hin und her. Ein Angsttraum peinigte sie. Sie sah Kassis Leute, die schreiend, mit gezogenen im Mondlicht schimmernden Sabeln, die Tragerkolonne angriffen. Die Verteidiger waren tot, alle Kinder waren in die Hande der Araber gefallen, die dabei waren, ein riesiges Massengrab fur sie auszuheben.
Kitty fuhr mit einem Ruck hoch. Sie war schwei?gebadet, und ihr Herz hammerte wie wild. Sie zitterte am ganzen Leibe und drehte langsam den Kopf hin und her. Plotzlich drang ein Gerausch an ihr Ohr. Sie lauschte angespannt, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Was sie horte, war das Gerausch entfernten Gewehrfeuers!
Sie erhob sich taumelnd. Ja, wahrhaftig! Das war Gewehrfeuer — und es kam aus der Richtung von Abu Yesha! Es war kein Traum! Der Transport war entdeckt worden!
Jordana betrat den Bunker in dem Augenblick, als Kitty gerade zur Tur sturzte.
»Lassen Sie mich hinaus!« schrie sie.
»Nein, Kitty, nein —.«
»Diese Morder! Sie bringen meine Kinder um!«
Jordana mu?te ihre ganz Kraft aufwenden, um Kitty gegen die Wand zu drucken.
»Horen Sie zu, Kitty! Dieses Gewehrfeuer, das Sie horen, ist ein Ablenkungsmanover Seew Gilboas und seiner Leute. Sie greifen Abu Yesha von der entgegengesetzten Seite an, um Kassis Truppen von der Transportkolonne abzulenken.«
»Sie lugen!«