erklarte Ben Ami, da? jede Korperpflege praktisch unmoglich sei. Auch die Ernahrung war ungenugend. Die Lagerinsassen machten einen geschwachten Eindruck. Ihre Gesichter zeigten teils den Ausdruck der Verbitterung und teils den dumpfer Betaubung, und alle waren vom Tode gezeichnet.

Sie blieben einen Augenblick am geoffneten Eingang eines Zeltes stehen, in dem ein Greis mit zerfurchtem Gesicht an einer holzernen Plastik arbeitete.

Er hielt sie in die Hohe, damit Kitty sie sehen konnte. Es waren zwei zum Gebet gefaltete Hande, die mit Stacheldraht zusammengeschnurt waren. Ari beobachtete sie genau, um ihre Reaktion festzustellen.

Der Ort mit all seinem Elend, seinem Schmutz und seiner Armlichkeit war ebenso absto?end wie mitleiderregend, doch Kitty hatte sich auf noch Schlimmeres gefa?t gemacht. Sie gewann allmahlich die Uberzeugung, da? Ari ben Kanaan doch keine geheimnisvolle Macht uber sie besa?.

Sie machten erneut halt, um einen Blick in ein gro?es Zelt zu tun, das als Synagoge diente. Uber dem Eingang war ein roh geschnitztes Symbol der Menora angebracht, des rituellen Leuchters. Im Innern des Zeltes bot sich Kitty ein seltsames, ungewohntes Bild: alte Manner, die mit dem Oberkorper hin und her schwangen, wahrend sie sonderbare Gebete murmelten. Es war eine fur Kitty vollig unbekannte Welt. Ihr Blick blieb auf einem besonders verwahrlosten alten Mann mit langem Bart hangen, der laut weinte und vor Qual aufschrie.

David nahm sie bei der Hand und fuhrte sie nach drau?en. »Er ist ein alter Mann«, sagte David. »Er redet mit Gott und sagt ihm, da? er das Leben eines Glaubigen gefuhrt habe — er habe Gottes Gebote gehalten, die Thora verehrt und dem Bund Abrahams, Isaaks und Jakobs auch im tiefsten, bittersten Leid die Treue gehalten. Er bittet Gott, ihn gnadig zu erlosen, weil er ein guter Mensch gewesen sei.« »Diese alten Manner da drinnen«, sagte Ari, »sind sich nicht so ganz klar daruber, da? der einzige Messias, der sie eines Tages vielleicht erlost, ein aufgepflanztes Seitengewehr ist.«

Kitty sah Ari an. Dieser Mann hatte etwas Unmenschliches an sich. Ari, der Kittys Ablehnung spurte, ergriff sie am Arm. »Wissen Sie, was ein ,Sonderkommando' ist?«

»Ari, bitte —«, sagte David.

»Das ist eine Gruppe, die von den Deutschen gezwungen wurde, bei den Verbrennungsofen zu arbeiten. Ich wurde Ihnen gern einen alten Mann hier zeigen. Er hat aus einem solchen Ofen in Buchenwald die Knochen seiner verbrannten Enkelkinder herausgeholt und sie in einem Schubkarren weggefahren. Sagen Sie mir, Mrs. Fremont — hat man Ihnen dort auf der Unfallstation, wo Sie gearbeitet haben, etwas Besseres zu bieten gehabt?«

Kitty drehte sich der Magen um. Doch dann stieg die Emporung in ihr hoch und sie schlug zuruck, wahrend ihr vor Zorn die Tranen in die Augen schossen. »Ihnen ist wirklich jedes Mittel recht.«

»Mir ist jedes Mittel recht, um Ihnen klarzumachen, wie verzweifelt unsere Lage ist.« Sie starrten sich feindselig und schweigend an. »Wollen Sie sich nun die Jugendsektion ansehen oder nicht?«

»Gehen wir«, sagte Kitty, »damit wir es hinter uns haben.«

Zu dritt betraten sie die Brucke, die oben uber den Stacheldraht in die Abteilung des Lagers fuhrte, in der die Kinder und Jugendlichen untergebracht waren, und sahen sich die Ernte an, die der erbarmungslose Schnitter Krieg gehalten hatte. Sie besichtigten das Lazarett, schritten die langen Reihen der Betten mit tuberkulosen Kindern ab, gingen durch die anderen Stationen, sahen die rachitisch verkrummten Glieder, die von Gelbsucht verfarbten Gesichter, die schwarenden Wunden, die nicht heilen wollten. Und sie gingen durch die geschlossene Abteilung, deren jugendliche Insassen den leeren, starren Blick der Geisteskranken zeigten. Sie gingen an den Zelten entlang, in denen die Abiturienten der Jahrgange 1940—45 lagen, die Matrikulanten des Ghettos, die Studenten der Konzentrationslager, die Doktoranden der Trummerlandschaft. Junge Menschen ohne Eltern und ohne Heim. Mit den kahlgeschorenen Schadeln der Entlausten. In Lumpen. Bettnasser, in deren Gesicht das Grauen stand, Kinder, die nachts im Schlaf schrien. Brullende Sauglinge und finster blickende Halbwuchsige, die nur durch ihre Schlauheit und Verschlagenheit am Leben geblieben waren.

Als sie die Besichtigung beendet hatten, sagte Kitty: »Das arztliche Personal, das Sie hier haben, ist hervorragend, und die Kinder werden mit allem versorgt, was sie brauchen.«

»Nicht den Englandern zu verdanken«, gab Ari zuruck »Alles Spenden unserer eigenen Leute.«

»Bitte«, sagte Kitty, »von mir aus kann es auch als Manna vom Himmel gefallen sein. Ich bin hierhergekommen, weil mein amerikanisches Gewissen mich trieb. Ich habe alles gesehen, und mein Gewissen ist zufriedengestellt. Und jetzt mochte ich gehen.« »Mrs. Fremont —«, sagte David ben Ami.

»La?, David! Es hat keinen Zweck. Es gibt eben Leute, auf die allein schon unser Anblick absto?end wirkt. Bring Mrs. Fremont zum Ausgang.«

David und Kitty gingen eine Zeltstra?e entlang. Als sie sich kurz umwandte, sah sie, da? Ari ihr nachstarrte. Sie wollte moglichst rasch aus dem Lager heraus. Sie wollte zuruck zu Mark und an diese ganze scheu?liche Geschichte nicht mehr denken.

Sie kamen an einem gro?en Zelt vorbei, aus dem ausgelassenes Gelachter ertonte. Es war gluckliches Kinderlachen, das in dieser Umgebung seltsam klang. Kitty blieb neugierig beim Zelteingang stehen und lauschte. Ein Madchen las eine Geschichte vor. Sie hatte eine entzuckende Stimme.

»Das ist ein erstaunliches Madchen«, sagte David. »Sie arbeitet hier als Kindergartnerin und macht ihre Sache ganz gro?artig.«

Aus dem Zelt klang erneut helles Gelachter. Kitty ging zum Eingang, zog die Leinwand beiseite und sah hinein. Das Madchen sa? mit dem Rucken zum Eingang auf einer Kiste, uber das Buch gebeugt, das sie nahe an eine Kerosinlampe hielt. Im Kreis um sie herum sa?en mit gro?en Augen zwanzig Kinder. Als Kitty und David hereinkamen, sahen sie zur Tur.

Das Madchen horte auf zu lesen, drehte sich um und stand dann auf, um die Hereinkommenden zu begru?en. Die Lampe flackerte in dem Luftzug, der von dem offenen Eingang kam, und lie? die Schatten der Kinder auf der Zeltwand tanzen.

Kitty sah das Madchen an, und ihre Augen weiteten sich schreckhaft.

Sie verlie? mit raschen Schritten das Zelt, dann blieb sie stehen, drehte sich um und starrte durch den Eingang zu dem erstaunten Madchen hin. Sie setzte wiederholt zum Sprechen an, konnte aber vor Verwirrung kein Wort herausbringen.

Schlie?lich sagte sie kaum horbar: »Ich mochte mich gern mit diesem Madchen unterhalten — allein.«

Ari, der inzwischen herangekommen war, nickte David zu. »Bring die Kleine zum Schulgebaude. Wir warten dort.«

Ari brannte die Laterne im Schulzimmer an und machte die Tur zu. Kitty blieb stumm, und ihr Gesicht war bla?.

»Dieses Madchen erinnert Sie an irgend jemand«, sagte Ari abrupt.

Kitty antwortete nicht. Durch das Fenster sah Ari, wie David mit dem Madchen herankam. Er warf noch einmal einen Blick auf Kitty und ging dann, hinaus.

Als Kitty allein war, schuttelte sie den Kopf. Es war verruckt. Warum war sie hierhergekommen? Warum war sie gekommen? Sie zwang sich zur Ruhe, rang um Fassung — um erneut dem Anblick dieses Madchens standzuhalten.

Die Tur ging auf, und das Madchen kam langsam herein. Kitty hielt den Atem an. Dieses Gesicht! Nur mit Muhe hielt sie sich zuruck, das Madchen in die Arme zu nehmen und an sich zu drucken.

Das Madchen sah sie verwundert an, doch es schien irgend etwas zu begreifen, und ihr Blick verriet Mitleid.

»Ich hei?e — Katherine Fremont«, sagte Kitty unsicher. »Sprichst du Englisch?«

»Ja.«

Wie reizend die Kleine war! Ihre Augen glanzten lebhaft, als sie lachelte und Kitty die Hand reichte.

Kitty legte dem Madchen die Hand auf die Wange — und lie? sie dann rasch herunterfallen.

»Ich — ich bin Kinderpflegerin. Ich hatte gern mit dir gesprochen. Wie hei?t du?«

»Karen«, sagte das Madchen, »Karen Hansen-Clement.«

Kitty setzte sich auf das Feldbett und bat das Madchen, sich zu ihr zu setzen.

»Wie alt bist du?«

»Ich bin grad sechzehn geworden, Mrs. Fremont.«

»Ach bitte, sag doch Kitty zu mir.«

»Gern, Kitty.«

»Wie ich hore, arbeitest du hier bei den Kindern.«

Das Madchen nickte.

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