Tausende judischer Wohnungen demoliert!

7500 judische Geschafte geplundert!

34 Juden ermordet!

Tausende von Juden schwer mi?handelt und verhaftet!

DER GESAMTHEIT DER JUDEN IN DEUTSCHLAND WIRD HIERMIT EINE GELDBUSSE VON EINER MILLIARDE REICHSMARK AUFERLEGT!

DIE ARISIERUNG MUSS BESCHLEUNIGT WERDEN! GRUNDBESITZ WIRD ENTEIGNET!

DIE JUDEN HABEN KEINERLEI ANSPRUCH AUF DEN BESITZ VON KUNSTGEGENSTANDEN ODER SCHMUCK!

AB SOFORT IST DEN JUDEN DER BESUCH VON THEATER, KINO UND KONZERT UNTERSAGT!

ALLE JUDEN KONNEN JEDERZEIT ZUR ZWANGSARBEIT HERANGEZOGEN WERDEN!

Es war schwer, sich vorzustellen, da? es noch schlimmer werden konnte. Doch die Flut stieg hoher und hoher, und schlie?lich brachen die Wogen uber Johann Clements Insel herein, als die kleine Karen eines Tages nach Haus gesturzt kam, das Gesicht blutuberstromt, wahrend in ihren Ohren noch die Schreie gellten: »Jude! Jude! Jude!«

Wenn ein Mensch eine so tief verwurzelte, eine so unerschutterliche Uberzeugung hat wie Johann Clement, dann wird die Erschutterung und Zerstorung dieser Uberzeugung zu einer grauenhaften Katastrophe. Nicht genug damit, da? er, Johann Clement, sich getauscht hatte, er hatte auch das Leben seiner Familie gefahrdet. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, und bei dieser Suche verwies man ihn schlie?lich an die Gestapo in Berlin. Als er aus Berlin zuruckkam, schlo? er sich zwei Tage und zwei Nachte lang in seinem Arbeitszimmer ein, hockte dort an seinem Schreibtisch und starrte auf das Schriftstuck, das vor ihm lag. Dieses Schriftstuck war ein Stuck Papier, das man ihm bei der Gestapo in die Hand gedruckt hatte, doch es war von nahezu unheimlich-magischer Kraft. Er brauchte nur seinen Namen darauf zu setzen, dann hatte er fur sich und seine Familie in Zukunft nichts mehr zu befurchten. Es war ein lebensspendendes Dokument. Er las es wieder und wieder durch, bis er jedes Wort, das dieses Schriftstuck enthielt, auswendig wu?te.

... auf Grund der oben angegebenen Nachforschungen und der unbestreitbar daraus sich ergebenden Tatsachen bin ich, Johann Clement, der absoluten Uberzeugung, da? die Angaben uber meine Geburt nicht der Wahrheit entsprechen. Ich habe niemals dem judischen Glauben angehort. Ich bin Arier und ...

Unterschreibe es! Unterschreibe es! Tausendmal ergriff er den Federhalter, um seinen Namen unter das Schriftstuck zu setzen. Es war jetzt nicht die Zeit, sich auf den Ehrenstandpunkt zu stellen! Er war nie Jude gewesen — warum sollte er das nicht unterschreiben — was bedeutete das schon. Warum nicht unterschreiben?

Die Gestapo hatte es Johann Clement mit aller Deutlichkeit erklart: sollte er nicht bereit sein, dieses Dokument zu unterschreiben und seine Forschungsarbeit fortzusetzen, so durfte seine Familie Deutschland nur verlassen, wenn er als Geisel dablieb.

Am Morgen des dritten Tages kam er aus seinem Arbeitszimmer heraus, bleich und eingefallen. Er begegnete dem angstvollen Blick Mirjams. Er ging zum Kamin und warf das Schriftstuck in die Flammen. »Ich kann nicht«, sagte er leise. »Du mu?t unverzuglich mit den Kindern aus Deutschland fort.« Er bangte plotzlich um jeden Augenblick, den seine Familie noch da war. Bei jedem Klopfen an der Tur, jedem Lauten des Telefons, jedem sich nahernden Schritt, ergriff ihn eine Angst, wie er sie noch nie in seinem Leben verspurt hatte.

Er machte einen Plan. Zunachst sollte die Familie nach Frankreich, wo sie bei befreundeten Kollegen bleiben konnte. Mirjam stand kurz vor der Niederkunft und konnte keine weite Reise machen. Wenn das Baby erst einmal da war und sie sich wieder erholt hatte, dann konnten sie nach England oder Amerika weiterfahren. Noch war nicht alles verloren. Wenn erst einmal die Familie in Sicherheit war, dann konnte er immer noch uberlegen, was aus ihm werden sollte. Es gab mehrere Geheimorganisationen in Deutschland, die sich speziell damit befa?ten, Wissenschaftler aus Deutschland herauszuschmuggeln. Man hatte ihm den Tip gegeben, sich an eine dieser Organisationen zu wenden, die in Berlin sa? und sich Mossad Aliyah Bet nannte.

Die Koffer waren gepackt, es war alles soweit. Am letzten Abend vor der Abreise sa?en Johann Clement und seine Frau schweigend beieinander und hofften verzweifelt auf irgendein Wunder, das ihnen einen Aufschub gewahren wurde.

Doch in der Nacht begannen bei Mirjam Clement die Wehen. Da sie nicht in ein Krankenhaus durfte, gebar sie zu Haus. Es war ein Sohn. Die Geburt war schwierig, und Mirjam brauchte mehrere Wochen, um sich davon zu erholen.

Panik ergriff Johann Clement! Er wurde gepeinigt von der Vorstellung, da? seine Familie in der Falle sa?, ohne jede Moglichkeit, dem nahenden Unheil zu entrinnen.

In fliegender Hast fuhr er nach Berlin und begab sich in die Meineckestra?e 10, wo sich das Buro von Mossad Aliyah Bet befand. Es war wie in einem Irrenhaus. Im Vorraum drangten sich die Menschen, die verzweifelt aus Deutschland herauszukommen versuchten.

Gegen zwei Uhr morgens fuhrte man ihn in ein Zimmer, in dem ein sehr junger und sehr erschopfter Mann sa?. Sein Name war Ari ben Kanaan, und er war aus Palastina hierhergeschickt worden, um deutschen Juden zu helfen, die aus dem Land heraus wollten. Ben Kanaan sah ihn mit geroteten Augen an. »Also gut, Herr Professor«, sagte er seufzend, »wir werden dafur sorgen, da? Sie hinauskommen. Fahren Sie jetzt wieder nach Hause, man wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich mu? einen Pa? beschaffen, ein Visum, mu? die entsprechenden Leute bestechen. Es wird einige Tage dauern.«

»Es handelt sich nicht um mich. Ich kann nicht fort, und auch meine Frau nicht. Aber ich habe drei Kinder. Sie mussen sie hinausbringen.«

»Ich mu? Sie hinausbringen«, wiederholte Ben Kanaan. »Herr Professor, Sie sind ein wichtiger Mann. Ihnen kann ich vielleicht helfen. Ihren Kindern kann ich nicht helfen.«

»Sie mussen!« schrie Clement.

Ari ben Kanaan schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »Haben Sie die Leute gesehen, die sich da drau?en drangen? Sie alle wollen aus Deutschland hinaus!« Er lehnte sich uber den Schreibtisch, bis sein Gesicht unmittelbar vor Johann Clement war. »Seit funf Jahren haben wir euch gebeten, haben wir gebettelt, da? ihr aus Deutschland fortgeht! Jetzt aber, selbst wenn es uns gelingt, euch hinauszubekommen, lassen die Englander euch nicht nach Palastina hinein. ,Wir sind Deutsche', habt ihr die ganze Zeit gesagt, ,wir sind Deutsche — uns werden sie doch nichts tun.' Herrgott noch mal, was soll ich denn jetzt machen!«

Ari schluckte und lie? sich in seinen Stuhl fallen. Er schlo? einen Augenblick lang ermudet die Augen. Dann ergriff er ein Bundel mit Schriftstucken, das auf seinem Schreibtisch lag und blatterte es durch. »Ich habe hier Ausreisevisa fur vierhundert Kinder. Danische Familien haben sich bereit erklart, sie aufzunehmen. Wir haben einen Zug organisiert. Eins von Ihren Kindern kann mitfahren.«

»Aber — ich habe drei Kinder.«

»Und ich habe zehntausend Kinder. Und keine Ausreisevisa fur sie. Und ich bin machtlos gegen die englische Flotte. Ich schlage vor, da? Sie das alteste Ihrer Kinder schicken. Das wird am besten auf sich allein aufpassen konnen. Der Zug fahrt morgen abend, vom Potsdamer Bahnhof.«

Karen druckte schlafrig ihre Lieblingspuppe an sich. Ihr Vater kniete neben ihr. In ihrem Halbschlummer roch sie den wunderbaren Geruch seiner Pfeife.

»Es wird eine sehr schone Reise werden, Karen. Das ist genau, als ob du nach Baden-Baden fuhrest.«

»Aber ich mag nicht, Pappi.«

»Hor mal, Karen — denk doch nur an all die netten Jungen und Madchen, die mit dir fahren.«

»Ich will aber nicht mit ihnen fahren. Ich will hierbleiben, bei dir und Mammi und Hans und Maximilian. Und bei meinem neuen Bruderchen.«

»Na, na, Karen Clement! Meine Tochter wird doch nicht weinen.« »Ich will nicht weinen — ich will ganz bestimmt nicht weinen. Pappi — Pappi — werde ich auch bald wieder bei dir sein?«

»Ja, wei?t du — wir werden uns alle Muhe geben —.«

Eine Frau naherte sich Johann Clement und beruhrte seine Schulter. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »es ist Zeit.«

»Ich setze sie in den Zug.«

»Tut mir leid — aber die Eltern durfen nicht mit in den Zug.«

Er nickte, druckte Karen rasch noch einmal an sich, trat zuruck und bi? so fest auf seine Pfeife, da? ihm die Zahne weh taten. Karen lie? sich von der Frau bei der Hand nehmen, doch dann blieb sie stehen und drehte sich

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