Sie brachten es nicht ubers Herz, Karen zu erzahlen, da? ihre ganze Familie verschwunden war. Karen schopfte Verdacht, als keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, doch sie hatte zu gro?e Angst, Fragen zu stellen. Sie liebte die Hansens und vertraute ihnen blind. Ihr Instinkt sagte ihr, da? sie ihre guten Grunde haben mu?ten, wenn sie Karens Familie mit keinem Wort mehr erwahnten.
Au?erdem geschah etwas Sonderbares. Gewi?, Karen hatte Sehnsucht nach ihren Eltern und Geschwistern, doch allmahlich schien das Bild ihrer Mutter und ihres Vaters mehr und mehr zu verblassen. Wenn ein achtjahriges Kind so lange von seinen Eltern getrennt ist, dann wird es immer schwerer, sich an sie zu erinnern. Karen war manchmal traurig, da? sie sich nicht deutlicher erinnern konnte. Gegen Ende des Jahres konnte sie sich kaum noch vorstellen, da? sie einmal nicht Karen Hansen gehei?en hatte und keine Danin gewesen sein sollte.
WEIHNACHTEN 1939
In Europa war Krieg, und seit Karens Ankunft bei Hansens war ein Jahr vergangen. Karen sang mit ihrer glockenreinen Stimme ein Weihnachtslied, wahrend Meta sie am Klavier begleitete. Dann ging Karen in ihr Zimmer und holte aus dem Schrank ein Paket, das sie dort versteckt hatte. Es enthielt das Weihnachtsgeschenk, das sie in der Schule gebastelt hatte. Stolz uberreichte sie es Meta und Aage. Auf das Papier, womit es eingepackt war, hatte sie geschrieben: FUR MAMMI UND PAPPI, VON EURER TOCHTER KAREN
8. APRIL 1940
Die Nacht war trugerisch und voll Verrat. Durch den Nebel drang das dumpfe Gerausch marschierender Truppen, die sich auf die danische Grenze zu bewegten. Die dunstige Morgendammerung brachte Fahre auf Fahre heran. Sie glitten lautlos durch die Nebelschwaden uber das Wasser, beladen mit Soldaten in Stahlhelmen. Die deutsche Wehrmacht ruckte an, schweigend und mit der Prazision eines Roboters, und uberzog das ganze Land.
9. APRIL 1940
Karen und die anderen Madchen aus ihrer Klasse sturzten an die Fenster und sahen nach oben zum Himmel, der schwarz war von drohnenden Flugzeugen, die eins nach dem andern herunterkamen und auf dem Flugplatz von Aalborg landeten.
9. APRIL 1940
Die Menschen sturzten verwirrt auf die Stra?e.
»Hier spricht der Danische Rundfunk. Heute fruh vier Uhr funfzehn hat die deutsche Wehrmacht bei Saed und Krussa die danische Grenze uberschritten!«
Vollig konsterniert durch das unerwartet schnelle Zuschlagen der Deutschen sa?en die Danen an ihren Radiogeraten und warteten verzweifelt auf eine Botschaft Konig Christians. Dann kam die Proklamation: Danemark kapitulierte, ohne einen Schu? zu seiner Verteidigung abgegeben zu haben. Das Beispiel Polens hatte deutlich genug gezeigt, da? jeder Widerstand zwecklos war.
Meta Hansen holte Karen eilig aus der Schule nach Hause und packte die Koffer, um nach Bornholm oder irgendeiner anderen abgelegenen Insel zu fliehen. Aage beruhigte sie und redete ihr gut zu, erst einmal abzuwarten. Es wurde Wochen oder gar Monate dauern, bis die Deutschen eine Zivilverwaltung in Gang bekamen. Der Anblick des Hakenkreuzes und der deutschen Uniformen lie? in Karen eine Fulle von Erinnerungen aufsteigen, und mit den Erinnerungen kam die Angst. Alle Leute waren in den ersten Wochen angstlich und verwirrt; nur Aage blieb ruhig.
Die deutsche Besatzungsmacht und die deutsche Zivilverwaltung machten gro?artige Versprechungen. Die Danen, so sagten sie, seien Arier. Die Deutschen betrachteten sie als ihre Bruder, und das Land hatten sie in erster Linie deshalb besetzt, um die Danen vor den Bolschewisten zu schutzen. Danemark konne, so sagten sie, seine inneren Angelegenheiten weiterhin selbst verwalten. Danemark sollte ein Musterprotektorat werden. Auf Grund dieser Zusicherungen traten, nachdem sich die anfangliche Erregung gelegt hatte, wieder annahernd normale Verhaltnisse ein.
Der ehrwurdige Konig Christian nahm seine taglichen Ausritte vom Schlo? Amalienborg in Kopenhagen wieder auf. Ohne jede Begleitung oder Bewachung bewegte er sich furchtlos durch die Stadt, und die Danen folgten seinem Beispiel. Die Losung des Tages hie?: passiver Widerstand.
Aage hatte recht behalten. Karen besuchte wieder die Schule, ging zu ihrem Tanzunterricht, und das Leben in Aalborg nahm seinen gewohnten Gang, als sei uberhaupt nichts geschehen.
Es kam das Jahr 1941. Seit der Besetzung durch die Deutschen waren acht Monate vergangen. Mit jedem Tag wurde es deutlicher, da? die Spannung zwischen den Deutschen und der Bevolkerung ihres »Musterprotektorats« wuchs. Konig Christian argerte die Eroberer, indem er sie nach wie vor nicht zur Kenntnis nahm. Auch die Bevolkerung ignorierte die Deutschen, soweit sie irgend konnte, oder aber, noch schlimmer, sie machte sich uber die Wichtigtuerei der Deutschen lustig und quittierte ihre gro?sprecherischen Proklamationen mit Gelachter. Je lauter die Danen lachten, desto wutender wurden die Deutschen.
Alle Illusionen, die sich die Danen im Anfang der deutschen Besatzungszeit gemacht hatten, wurden sehr bald zerstort. Die danische Industrie, die danische Landwirtschaft und die geographische Lage Danemarks waren in den deutschen Herrschaftsplan einbezogen. Danemark sollte ein weiteres Radchen der deutschen Kriegsmaschine werden. Gegen Mitte des Jahres 1941 hatte sich daher in Danemark, wo man das Beispiel Norwegens, des skandinavischen Brudervolkes, vor Augen hatte, eine zahlenma?ig zwar noch geringe, aber sehr entschlossene Widerstandsbewegung gebildet. Reichsbevollmachtigter Best, Oberhaupt der deutschen Zivilverwaltung in Danemark, war dem »Musterprotektorat« gegenuber fur eine Politik der Ma?igung, solange die Danen friedlich blieben und zur Mitarbeit bereit waren. Die Ma?nahmen gegen die Danen waren milde im Vergleich zu dem Vorgehen in den anderen besetzten Gebieten. Trotzdem wuchs die Widerstandsbewegung unaufhaltsam. Ihre Mitglieder konnten es zwar nicht wagen, die deutschen Truppen mit Waffengewalt zu bekampfen oder eine allgemeine Erhebung zu planen, doch sie fanden einen Weg, ihrem Ha? auf die Deutschen wirksamen Ausdruck zu verleihen. Dieser Weg hie? Sabotage.
Dr. Werner Best verlor die Nerven nicht. In aller Ruhe erfa?te er diejenigen Danen, die mit den Nazis sympathisierten, um der neuen Bedrohung Herr zu werden. Die von den Deutschen aufgestellte Hilfspolizei entwickelte sich zu einer Bande danischer Terroristen, die zu Strafaktionen gegen ihre eigenen Landsleute eingesetzt wurde. Jeder Sabotageakt wurde mit einer Aktion der HIPOS beantwortet. Wahrend die Monate und Jahre der deutschen Besatzung ins Land gingen, erlebte Karen Hansen im abgelegenen Aalborg, wo das Leben ganz normal schien, ihren elften und ihren zwolften Geburtstag. Die Berichte von Sabotageakten und der gelegentliche Krach einer Schie?erei oder einer Explosion erschutterten die Ruhe des Stadtchens nur fur kurze Zeit.
Karen horte auf, ein Kind zu sein, und verspurte die ersten Freuden und Leiden einer tiefen Zuneigung, die nicht den Eltern oder einer Freundin galt. Sie schwarmte fur Mogen Sorensen, den besten Fu?ballspieler der Schule, und da ihre Zuneigung nicht unerwidert blieb, wurde sie von allen anderen Madchen beneidet.
Ihre tanzerische Begabung war so gro?, da? die Lehrerin Meta und Aage Hansen nahelegte, das junge Madchen die Aufnahmeprufung fur das Konigliche Ballett in Kopenhagen machen zu lassen. Karen sei ein sehr begabtes Kind, meinte die Lehrerin, und in ihrem Tanz au?ere sich eine Empfindungsfahigkeit, die weit uber ihr Alter hinausginge.
Anfang 1943 wurden die Hansens immer unruhiger. Die danische Widerstandsbewegung gab den Alliierten durch Funkspruch sehr wertvolle Informationen uber die Anlage wichtiger Rustungsbetriebe und gro?er Nachschublager auf danischem Gebiet. Sie ging in ihrer Mitarbeit so weit, der Royal Air Force die genaue Lage dieser Angriffsziele zu ubermitteln.
Die HIPOS und andere von den Deutschen gekaufte Terroristen schritten zu Vergeltungsma?nahmen. Als die Aktivitat auf beiden Seiten zunahm, fing Aage an, sich Gedanken zu machen. Alle Leute in Aalborg wu?ten, wo Karen herkam. Zwar hatte man gegen die danischen Juden bisher noch nichts unternommen, doch das konnte sich plotzlich andern. Mit ziemlicher Sicherheit war auch anzunehmen, da? die Deutschen durch die HIPOS uber Karens judische Herkunft informiert waren. Schlie?lich fa?ten Meta und Aage den Entschlu?, ihr Haus in Aalborg zu verkaufen und nach Kopenhagen zu ziehen, unter dem Vorwand, da? die beruflichen Moglichkeiten fur Aage dort besser seien und da? Karen in Kopenhagen auch eine bessere Tanzausbildung bekommen konne.
Im Sommer des Jahres 1943 trat Aage als Sozius in ein Rechtsanwaltsburo in Kopenhagen ein. In dieser Stadt von einer Million Einwohnern hofften sie, vollig anonym untertauchen zu konnen. Fur Karen wurden falsche Papiere beschafft, aus denen hervorging, da? sie ihre leibliche Tochter war. Karen nahm Abschied von Mogen Sorensen und durchlitt heftigen Liebeskummer.
Die Hansens fanden eine sehr schone Wohnung am Sortedams Dossering. Das war eine breite Stra?e, die sich mit vielen Baumen an einem kunstlichen Wasserlauf entlangzog, uber den zahlreiche Brucken in die Altstadt