»Das ist schon. Wei?t du, ich — ich werde moglicherweise auch hier arbeiten, und — nun ja, ich wu?te gern genauer uber dich Bescheid. Eigentlich mochte ich alles wissen. Hast du Lust, es mir zu erzahlen?«

Karen lachelte. Sie fuhlte sich zu Kitty hingezogen, und sie spurte instinktiv, da? Kitty nach ihrer Zuneigung verlangte — sie brauchte. »Eigentlich bin ich aus Deutschland«, sagte Karen, »aus Koln. Aber das ist schon so lange her —.«

XI.

Das Leben ist wunderbar, wenn man sieben Jahre alt ist, wenn dein Vater der beruhmte Professor Johann Clement ist, und wenn in Koln gerade Karneval gefeiert wird. In der Karnevalszeit gibt es vieles, was schon ist, aber etwas gibt es, was immer ganz besonders schon ist, und das ist ein Spaziergang mit Pappi. Da geht man unter den Baumen am Ufer des Rheins entlang, oder man kann auch in den Zoo gehen, der die wunderbarsten Affenkafige von der ganzen Welt hat, oder man kann um den Dom herumgehen und hinaufsehen zu den beiden Turmen, die so hoch sind, da? sie bis in den Himmel zu ragen scheinen. Und das Schonste von allem ist, fruh am Morgen mit Pappi und Maximilian durch den Stadtpark zu gehen. Maximilian, das ist der gro?artigste Hund von ganz Koln, obwohl er ein bi?chen komisch aussieht. In den Zoo darf Maximilian naturlich nicht mit. Manchmal nimmt man auch Hans auf so einen Spaziergang mit, aber kleine Bruder sind meist ziemlich lastig.

Wenn man so ein kleines Madchen ist, dann hat man seine Mammi auch sehr lieb und mochte sie gern dabeihaben, wenn man mit Pappi und Hanschen und Maximilian spazierengeht. Aber Mammi bekommt wieder ein Baby und fuhlt sich in letzter Zeit gar nicht wohl. Es ware hubsch, wenn das Baby ein Schwesterchen sein wurde, denn als Madchen hat man mit einem Bruder schon Arger genug.

Am Sonntag setzt sich die ganze Familie — bis auf den armen Maximilian, der auf das Haus aufpassen mu? — ins Auto, und Pappi fahrt am Rhein entlang nach Bonn, wo die Oma wohnt. Dort treffen sich jeden Sonntag viele Tanten und Onkel und Vettern und Kusinen, und Oma hat hundert kleine Platzchen gebacken, oder vielleicht sogar noch mehr.

Bald, wenn es Sommer sein wird, wird man eine herrliche Reise machen, an die Nordsee, oder durch den Schwarzwald, oder nach Baden-Baden, wo man stets im Park-Hotel zu wohnen pflegt. Professor Johann Clement ist ein schrecklich beruhmter Mann. In der Universitat nehmen alle Leute den Hut vor ihm ab, machen eine Verbeugung und sagen lachelnd: »Guten Morgen, Herr Professor.« Abends kommen andere Professoren mit ihren Frauen, und manchmal kommen funfzehn oder zwanzig Studenten zu Besuch, und in Pappis Zimmer ist es dann ganz voll. Da sitzen sie und reden und trinken und singen bis spat in die Nacht.

Am schonsten aber waren doch die Abende, an denen kein Besuch da war, und an denen Pappi auch nicht arbeiten oder einen Vortrag halten mu?te. Dann sa? die ganze Familie vor dem Kamin. Es war so schon, auf Pappis Scho? zu sitzen, in die Flammen zu sehen, den Rauch seiner Pfeife zu riechen und zuzuhoren, wenn Pappi mit seiner tiefen, freundlichen Stimme ein Marchen vorlas.

Damals, in den drei?iger Jahren geschahen viele sonderbare Dinge, die man gar nicht richtig verstehen konnte. Die Leute schienen sich vor irgend etwas zu furchten und sprachen flusternd miteinander, besonders in der Universitat. Doch das alles scheint ganz unwichtig, wenn die Karnevalszeit kommt.

Fur Professor Johann Clement gab es vieles zu bedenken. In einer Zeit, wo um einen her alles druber und drunter ging, mu?te man seinen klaren Kopf behalten. Clement war der festen Uberzeugung, da? der Ablauf menschlicher Entwicklungen fur einen Wissenschaftler ebenso uberschaubar und berechenbar war wie der Rhythmus von Ebbe und Flut. Es gab Wogen der Erregung und des Hasses, und es gab Wogen volliger Unvernunft. Diese Wogen erreichten einen Hohepunkt und vergingen dann wieder. In diesem bewegten Meer lebten alle Menschen, bis auf einige wenige, die auf einer Insel hausten, einer Insel, die so steil war, da? der Mahlstrom des Lebens sie nie erreichte. Eine Universitat, so meinte Johann Clement ein wenig naiv-zuversichtlich, sei eine solche Insel, ein solcher Zufluchtsort.

Im Mittelalter hatte es schon einmal eine Welle des Hasses und der Unwissenheit gegeben, als die Kreuzritter die Juden toteten. Doch die Zeit, da man den Juden die Schuld fur die Pest gab und ihnen vorwarf, sie hatten das Wasser in den Brunnen der Christen vergiftet, war vorbei. Im Zeitalter der Aufklarung, das auf die Franzosische Revolution gefolgt war, hatten die Christen eigenhandig die Mauern des Ghettos niedergerissen. Und in dieser neuen Ara waren die Juden von dem Ruhm und der Gro?e Deutschlands nicht mehr zu trennen gewesen. Die Juden hatten ihre eigenen Anliegen den gro?eren Problemen der Menschheit untergeordnet; sie hatten sich assimiliert und waren Mitglieder der gro?en menschlichen Gesellschaft geworden. Und wie viele bedeutende Manner hatten sie hervorgebracht! Heine und Rothschild und Marx und Mendelssohn und Freud — die Reihe war lang. Genau wie er, Johann Clement, waren auch diese Manner Deutsche — erstlich, letztlich und uberhaupt.

Der Antisemitismus, so meinte Johann Clement, zog sich wie ein roter Faden durch die menschliche Geschichte. Er war nicht wegzudenken, war eine unumsto?liche Tatsache. Unterschiede gab es nur in bezug auf den Grad und die Art. Zweifellos war er, Clement, sehr viel besser dran als die Juden in den ostlichen Teilen Europas oder in den noch halb barbarischen Landern Afrikas. Die Judenpogrome, wie etwa der von Frankfurt, gehorten einer vergangenen Epoche an.

Es war denkbar, da? Deutschland von einer neuen antisemitischen Welle erfa?t wurde, aber ihn wurde sie nicht erfassen. Er wurde auch nicht aufhoren zu glauben, da? die Deutschen, ein Volk mit einem solchen kulturellen Erbe, letzten Endes doch diese Elemente, die vorubergehend die Herrschaft an sich gerissen hatten, ablehnen und ausbooten wurden.

Johann Clement beobachtete die Entwicklung genau. Angefangen hatte es mit wirrem und wildem Gekeife. Dann kamen gedruckte Anschuldigungen und Unterstellungen. Dann ein Boykott judischer Geschaftsleute, und dann die Verunglimpfungen in der Offentlichkeit, wo Juden auf der Stra?e geschlagen und an den Barten gerissen wurden. Dann kam der nachtliche Terror der Braunhemden. Und dann kamen die Konzentrationslager.

Gestapo, SS, SD, KRIPO, RSHA. Bald wurde jede Familie in Deutschland von den Nazis bespitzelt, und der Wurgegriff der Tyrannei wurde enger und enger, bis das letzte Rocheln des Widerstandes erstickte und erstarb.

Doch wie die meisten deutschen Juden glaubte Professor Johann Clement noch immer daran, da? ihm diese neue Bedrohung nichts anhaben werde. Die Universitat war eine Insel, seine sichere Zuflucht, und er war der Meinung, durch und durch Deutscher zu sein.

Diesen einen Sonntag wurde man nie vergessen. Die ganze Familie hatte sich bei Oma in Bonn versammelt. Sogar Onkel Ingo war den weiten Weg von Berlin herubergekommen. Alle Kinder waren nach drau?en zum Spielen geschickt worden, und man hatte die Tur des Wohnzimmers abgeschlossen.

Auf der Ruckfahrt hatten Mammi und Pappi nicht ein Wort gesprochen. Manchmal benahmen sich die Erwachsenen wirklich wie Kinder. Kaum zu Hause angekommen, wurde man schon ins Bett gesteckt. Diese geheimen Unterhaltungen wurden immer haufiger. Wenn man aber an der Tur stand und sie nur einen kleinen Spalt breit aufmachte, konnte man jedes Wort horen. Mammi war schrecklich aufgeregt, Pappi so ruhig und besonnen wie immer.

»Lieber Johann, wir mussen endlich irgend etwas unternehmen. Diesmal wird es auch uns treffen. Es ist schon so weit, da? ich Angst habe, mit den Kindern auf die Stra?e zu gehen.«

»Es ist wahrscheinlich nur dein Zustand, der dich alles als so schlimm ansehen la?t, schlimmer als es ist.«

»Seit funf Jahren erzahlst du mir nun, es wurde besser werden. Aber es wird nicht besser.«

»Solange ich hier an der Universitat bin, sind wir sicher.«

»Mein Gott, Johann — wie lange willst du dir denn noch etwas vormachen — wir haben keine Freunde mehr. Die Studenten kommen nicht mehr zu uns. Keiner von unseren Bekannten wagt es noch, mit uns zu reden.«

Johann Clement steckte sich seine Pfeife an und seufzte. Mirjam kauerte neben ihm auf dem Fu?boden und legte ihren Kopf auf seinen Scho?, und er strich ihr uber das Haar. Maximilian, der nahe bei ihnen vor dem Kamin lag, streckte sich und gahnte.

»Ich gebe mir ja solche Muhe, mutig und vernunftig zu sein wie du«, sagte Mirjam.

»Ich bin in diesem Haus geboren. Mein ganzes Leben, alles, was ich mir je gewunscht, alle Dinge, an denen je mein Herz gehangen hat, sind in diesen Raumen hier. Mein einziger Wunsch ist, da? unser Sohn Hans eines Tages dies alles ebenso lieben soll, wie ich es geliebt habe. Manchmal frage ich mich, ob ich recht gehandelt habe, dir und den Kindern gegenuber — aber irgend etwas in mir erlaubt mir nicht, davonzulaufen. Nur noch ein kleines Weilchen, Mirjam — das geht vorbei.«

9. NOVEMBER 1938

Hunderte von Synagogen niedergebrannt!

Вы читаете Exodus
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату