noch einmal um. Sie gab ihrem Vater ihre Stoffpuppe. »Pappi, nimm du mein Puppchen, es wird auf dich aufpassen.«

Scharen angsterfullter Eltern drangten sich am Zug, und die abreisenden Kinder pre?ten ihre Gesichter gegen das Glas der Fenster, riefen, winkten, und suchten verzweifelt einen letzten Blick zu erhaschen.

Johann Clement suchte nach seiner Tochter, konnte sie aber nicht mehr sehen.

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Eltern liefen nebenher und riefen ein letztes Lebewohl.

Professor Clement stand regungslos in der Menge. Als der letzte Wagen vorbeikam, hob er den Blick und sah Karen ganz ruhig und gefa?t auf der hintersten Plattform stehen. Sie legte die Finger an die Lippen und warf ihm eine Ku?hand zu — als ob sie ahnte, da? sie ihn nie wiedersehen sollte.

Er sah ihr nach, sah die kleine Figur kleiner und kleiner werden, bis nichts mehr zu sehen war. Sein Blick fiel auf die Puppe, die er in der Hand hielt. »Leb wohl, mein Leben«, sagte er leise.

XII.

Aage und Meta Hansen bewohnten ein wunderschones Haus in einem Vorort von Aalborg. Es war genau das richtige Heim fur ein kleines Madchen. Sie hatten keine eigenen Kinder. Die Hansens waren ein gut Teil alter als die Clements; Aage bekam schon graue Haare, und Meta war durchaus nicht so schon wie Mirjam; doch Karen fuhlte sich dennoch wohl und sicher bei ihnen, vom ersten Augenblick an, als die beiden sie halb im Schlaf in ihr Auto getragen hatten.

Die Fahrt nach Danemark war wie ein boser Traum gewesen. Sie erinnerte sich nur noch, da? rings um sie herum Kinder gesessen und leise vor sich hingeschluchzt hatten. Alles ubrige war undeutlicher Nebel — sie hatten sich in Reihen aufstellen mussen, man hatte ihnen Zettel angesteckt, unbekannte Menschen hatten in einer unverstandlichen Sprache zu ihnen gesprochen. Dann ging es in einen Warteraum, in einen Autobus, es gab einen neuen Zettel. Schlie?lich hatte man sie allein in den Raum gefuhrt, in dem Meta und Aage Hansen standen und ungeduldig warteten. Aage nahm sie in die Arme und trug sie zum Wagen, und Meta hielt sie auf der ganzen Fahrt bis nach Aalborg auf ihrem Scho?, streichelte sie und sprach freundlich mit ihr, und Karen wu?te, da? sie bei guten Leuten war.

Aage und Meta blieben erwartungsvoll an der Tur stehen, als Karen zogernd und auf Zehenspitzen in das Zimmer ging, das sie fur sie eingerichtet hatten. Es war voll von Puppen und Spielsachen und Buchern und Kleidern und so ungefahr von allem, was sich ein kleines Madchen uberhaupt nur wunschen konnte. Doch dann entdeckte Karen den Wuscheligen jungen Hund auf ihrem Bett. Sie kniete sich neben ihn und streichelte ihn, und er leckte ihr das Gesicht, und sie spurte seine nasse Nase an ihrer Backe. Sie drehte sich um und lachelte den Hansens zu, und Aage und Meta lachelten zuruck.

Die ersten Nachte ohne Pappi und Mammi waren schrecklich. Und es war sonderbar, wie sehr sie ihren Bruder Hans vermi?te. Sie a? kaum und sa? nur still fur sich allein in ihrem Zimmer und streichelte den kleinen Hund, den sie Maximilian getauft hatte. Meta Hansen verstand das alles sehr gut. Abends sa? sie bei Karen, streichelte sie und hielt ihre Hand, bis das leise Schluchzen aufgehort hatte und Karen eingeschlafen war.

In der darauffolgenden Woche kam ein nicht abrei?ender Strom von Besuchern, die Geschenke mitbrachten, machtig viel Getue um Karen machten und in einer Sprache auf sie einredeten, die sie noch nicht verstehen konnte. Die Hansens waren sehr stolz, und Karen gab sich die gro?te Muhe, zu allen Leuten nett zu sein. Und ein paar Tage spater wagte sie sich zum erstenmal aus dem Haus nach drau?en.

Karen hatte Aage Hansen schrecklich gern. Er rauchte Pfeife, genau wie ihr Pappi, und er machte gerne Spaziergange. Aalborg war ein interessanter Ort. Es gab da, wie in Koln, ein Wasser, das hie? der Limfjord. Herr Hansen war Rechtsanwalt und ein gro?er Mann, und beinahe alle Leute schienen ihn zu kennen. Er war naturlich kein so gro?er Mann wie ihr Pappi — aber das waren sowieso nur sehr wenige Leute.

Eines Abends sagte Aage: »Hor mal, Karen, du bist jetzt schon beinahe drei Wochen bei uns, und wir mochten gern etwas mit dir besprechen, etwas sehr Wichtiges.«

Er verschrankte die Hande auf dem Rucken, schritt im Zimmer auf und ab und sprach zu ihr, auf eine ganz wunderbare Art, und so, da? sie auch alles sehr gut verstehen konnte. Er erzahlte ihr, es gabe jetzt in Deutschland so vieles, was gar nicht schon sei, und ihre Eltern meinten, es sei besser, wenn sie vorlaufig erst einmal hier bei ihnen bliebe. Und dann sagte Aage Hansen, sie wu?ten sehr gut, da? sie ihr niemals die Eltern ersetzen konnten, da aber Gott ihnen nun einmal keine eigenen Kinder gegeben habe, seien sie sehr glucklich, sie bei sich zu haben, und sie mochten gern, da? auch Karen glucklich sei. Doch, Karen verstand das alles sehr gut, und sie sagte Aage und Meta, sie hatte nichts dagegen, vorlaufig erst einmal bei ihnen zu bleiben.

»Und noch etwas, Karen. Da wir uns dich nun fur ein Weilchen ausleihen, und weil wir dich so gern haben, wollten wir dich fragen — wurde es dir etwas ausmachen, wenn du dir unseren Namen ausleihst?«

Daruber mu?te Karin nachdenken. Ihr schien, Aage hatte noch irgendwelche anderen Grunde. Seine Frage hatte diesen besonderen Ton gehabt, hatte so erwachsen geklungen — genau wie bei Mammi und Pappi, wenn sie hinter geschlossenen Turen miteinander geredet hatten. Dann nickte sie und sagte, ja, das ware ihr auch recht.

»Schon! Dann hei?t du jetzt also Karen Hansen.«

Aage und Meta nahmen sie bei der Hand, wie sie das jeden Abend taten, brachten sie in ihr Zimmer und machten die kleine Lampe an. Aage spielte mit ihr und kitzelte sie, und Maximilian sprang aufs Bett und tobte mit. Karen lachte, bis sie nicht mehr konnte, dann schlupfte sie unter die Bettdecke und sagte ihr Abendgebet. »— und behute Mammi und Pappi und Hans und mein kleines Bruderchen, und alle meine Onkel und Tanten und Vettern und Kusinen — und auch die Hansens, die so nett zu mir sind — und die beiden Maximilians.«

»Ich komme gleich und setze mich an dein Bett«, sagte Meta.

»Das ist nicht notig. Du brauchst jetzt nicht mehr bei mir zu sitzen. Maximilian pa?t auf mich auf.«

»Gute Nacht, Karen.«

»Sag mal, Aage, sind die Leute in Danemark auch so bose auf die Juden?«

Meine liebe Frau Clement, verehrter Herr Professor, ist es wirklich schon sechs Wochen her, da? Karen zu uns kam? Sie ist ein erstaunliches Kind. Ihre Lehrerin hat uns erzahlt, da? sie sich in der Schule sehr gut macht. Es ist kaum zu glauben, wie schnell sie Danisch lernt. Wahrscheinlich kommt das daher, da? sie mit Gleichaltrigen zusammen ist. Sie hat schon viele Freundinnen hier. Der Zahnarzt riet uns, einen Zahn ziehen zu lassen, um Platz zu machen fur einen neuen. Es war nicht weiter schlimm. Wir mochten gern, da? Karen Musikstunden bekommt, und werden Ihnen daruber noch genauer schreiben.

Jeden Abend schlie?t sie in ihr Gebet ...

Und dabei lag ein Brief von Karen, in Blockschrift:

LIEBE MAMMI, PAPPI, HANS, MAXIMILIAN, UND MEIN NEUES BRUDERCHEN, ICH HABE SOLCHE SEHNSUCHT NACH EUCH, WIE ICH EUCH GAR NICHT SAGEN KANN —. Im Winter lauft man Schlittschuh auf dem Eis des Limfjords, baut Schneemanner und rodelt, und dann sitzt man am knisternden Kamin, und Aage reibt einem die eiskalten Fu?e.

Doch der Winter verging, der Limfjord taute auf, und das Land wurde grun und bluhte. Und als der Sommer kam, fuhren alle an die Nordsee, nach Blockhus, und Karen fuhr mit Meta und Aage im Segelboot hundert Meilen weit hinaus auf das Meer.

Das Leben bei Hansens war schon und abwechslungsreich. Karen hatte eine Menge ,bester' Freundinnen, und sie fand es wunderbar, mit Meta zum Einkaufen auf den Fischmarkt zu gehen, wo es nach allem moglichen roch, oder mit ihr in der Kuche zu sein und zuzusehen, wie man einen Kuchen backt. Und Meta konnte einem gut helfen bei so vielen Dingen, beim Nahen oder bei den Schularbeiten, und sie war ein so wunderbarer Trost, wenn Karen mal mit Fieber oder Halsschmerzen im Bett liegen mu?te.

Aage hatte immer ein Lacheln fur sie und offene Arme, und er schien beinah genauso klug und freundlich zu sein wie ihr richtiger Pappi. Aage konnte auch machtig streng sein, wenn es mal notig war.

Eines Tages, als Karen gerade zum Tanzunterricht war, rief Aage zu Hause an und bat Meta ins Buro zu kommen.

»Ich habe eben Nachricht vom Roten Kreuz bekommen«, sagte er zu seiner Frau. Er war sehr erregt, und sein Gesicht war bla?. »Sie sind alle miteinander verschwunden. Spurlos. Die ganze Familie. Ich habe alles versucht, aber ich bekomme keinerlei Auskunft aus Deutschland.«

»Und was vermutest du, Aage?«

»Was gibt es da zu vermuten? Man hat sie alle in ein Konzentrationslager gebracht — oder an einen noch schlimmeren Ort.«

»Oh, mein Gott!«

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