Nachte nicht zu Haus. Fur Meta waren es lange und schreckliche Nachte.
Der danische Widerstand, dessen Krafte inzwischen zusammengefa?t und auf bestimmte Ziele gerichtet waren, konzentrierte seine Energie auf die Zerstorung der deutschen Transportwege. Es verging kaum eine halbe Stunde, ohne da? irgendwo eine Eisenbahnstrecke unterbrochen wurde. Bald war das gesamte danische Eisenbahnnetz von den Trummern und Wracks der in die Luft gesprengten Zuge gesaumt.
Die HIPOS rachten sich, indem sie das Tivoli sprengten, den Lieblingsort aller Kopenhagener.
Die Danen riefen zum Generalstreik gegen die Deutschen auf. Sie gingen in Massen auf die Stra?en und errichteten in ganz Kopenhagen Barrikaden, von denen danische, amerikanische, englische und russische Fahnen wehten.
Die Deutschen verhangten den Belagerungszustand uber Kopenhagen.
Reichskommissar Best brullte wutend: »Der Mob von Kopenhagen soll die Knute zu spuren bekommen!«
Der Generalstreik wurde niedergeknuppelt, doch die Widerstandsbewegung setzte ihre Zerstorungsarbeit fort.
19. SEPTEMBER 1944
Die Deutschen internierten die gesamte danische Polizei, weil es ihr nicht gelungen war, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und weil sie Sympathie fur die gegen die Besatzungsmacht gerichteten Aktionen der danischen Bevolkerung bekundet hatte. Die Widerstandsbewegung unternahm einen tollkuhnen Anschlag auf die amtlichen Archive der Nazis und vernichtete samtliche Akten. Die Widerstandsbewegung stellte leichte Waffen her und schmuggelte Manner nach Schweden, wo sie dem Danischen Freikorps beitraten. Die Wut der Widerstandskampfer richtete sich gegen die HIPOS und andere Verrater, mit denen teilweise kurzer Proze? gemacht wurde. HIPOS und Gestapo, rasend vor Wut, antworteten zur Vergeltung mit einer Welle wahlloser Erschie?ungen.
Und dann begannen Fluchtlinge aus Deutschland nach Danemark zu stromen. Sie uberschwemmten das ganze Land und forderten Nahrung und Unterkunft, ohne dafur zu danken. Die Danen drehten ihnen verachtlich den Rucken.
Im April des Jahres 1945 schwirrten alle moglichen Geruchte durch die Luft.
4. MAI 1945
»Mammi! Pappi! Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus!«
XIII.
Der Krieg war aus, und in Danemark ruckten die Sieger ein, die Amerikaner, die Englander und das Danische Freikorps. Es waren bewegte Tage — eine Woche der Vergeltung, der Abrechnung mit den HIPOS und den danischen Verratern, mit Reichskommissar Best und der Gestapo. Eine Woche larmender, uberschwenglicher Freude, deren Hohepunkt die Wiedereroffnung des danischen Parlaments durch den alten Konig Christian war. Er sprach mit stolzer, aber matter Stimme, die vor Bewegung unsicher war. Fur Meta und Aage Hansen war die Woche der Befreiung eine Zeit der Sorge. Vor sieben Jahren hatten sie ein Kind aus schwerer Gefahr errettet und es herangezogen zu einem bluhenden jungen Madchen, einem Madchen, von strahlender Anmut und Heiterkeit. Und jetzt: der Tag des Gerichts.
In einem Anfall von Angst und Verzweiflung hatte Meta Hansen einst geschworen, sie wurde Karen nie und nimmer hergeben. Nun aber wurde Meta Hansen das Opfer ihrer Rechtschaffenheit. Was ihr jetzt zu schaffen machte, waren nicht mehr au?ere Feinde, sondern ihr christliches Gewissen. Und auch Aage wurde tun, was ihm sein danisches Ehrgefuhl befahl. Mit der Befreiung kam fur sie die Angst vor der Leere, die in ihrem Leben entstehen wurde, wenn Karen eines Tages nicht mehr da war. Beide waren in den letzten sieben Jahren sehr gealtert. Das zeigte sich in dem Augenblick, als die Spannung des Krieges zu Ende war. So bedrohlich es in den vergangenen Jahren mitunter auch ausgesehen hatte, sie hatten doch nie das Lachen verlernt; jetzt aber, wahrend ganz Danemark lachte, war es bei ihnen still geworden. Die Hansens hatten kein anderes Verlangen, als Karen anzusehen, ihre Stimme zu horen, und stundenlang sa?en sie in Karens Zimmer, verzweifelt bemuht, moglichst viele Erinnerungen fur spater zu sammeln.
Karen war sich daruber klar, was kommen mu?te. Sie liebte die Hansens. Aage hatte immer das Richtige getan. Sie mu?te warten, bis er als erster sprach. Von Tag zu Tag wurde die Stimmung bedruckter und das Schweigen schwerer. Endlich, zwei Wochen nach der Befreiung, als sie wieder einmal schweigend zu Abend gegessen hatten, erhob sich Aage vom Tisch und legte seine Serviette hin. Sein freundliches Gesicht lag in bekummerten Falten, und seine Stimme war matt und ausdruckslos. »Wir mussen versuchen, deine Eltern zu finden, Karen«, sagte er. »Das ist unsere Pflicht.« Damit ging er rasch hinaus. Karen sah zur Tur, hinter der er verschwunden war, und dann zu Meta, die ihr am Tisch gegenubersa?.
»Ich liebe euch doch«, sagte Karen, lief in ihr Zimmer und warf sich schluchzend auf das Bett. Sie machte sich bittere Vorwurfe, da? sie den Hansens diese Sorge bereitete. Und auch noch aus einem anderen Grunde war sie mit sich unzufrieden. Sie wu?te nichts uber ihre Vergangenheit; jetzt aber verlangte es sie danach, daruber Klarheit zu erhalten. Einige Tage spater begaben sie sich zu der internationalen Fluchtlingsorganisation.
»Das ist meine Pflegetochter«, sagte Aage.
Die Sachbearbeiterin, mit der sie sprachen, hatte in der kurzen Zeit seit der Befreiung schon viele Falle wie den des Ehepaares Hansen und ihrer Pflegetochter Karen erlebt. Tag fur Tag war sie gezwungen, Augenzeuge von Tragodien zu werden. Oberall, in Danemark und Holland, in Schweden, Belgien und Frankreich erschienen Pflegeeltern wie die Hansens, die Kinder bei sich aufgenommen, sie verborgen, geschutzt und aufgezogen hatten, um ihren bitteren Lohn zu empfangen.
»Ich mu? Sie darauf aufmerksam machen, da? die Sache au?erordentlich schwierig und nervenaufreibend ist, und da? es nicht so rasch gehen wird. Es gibt Millionen herumirrender Menschen in Europa. Wir haben keinerlei Ahnung, wie lange es dauern wird, die auseinandergerissenen Familien wieder zusammenzufuhren.«
Sie teilten der Sachbearbeiterin alle ihnen bekannten Tatsachen mit, ubergaben ihr eine Liste samtlicher Verwandter Karens und die Briefe ihrer Eltern. Da Karen eine sehr zahlreiche Verwandtschaft hatte und ihr Vater ein prominenter Mann gewesen war, machte die Dame ihnen ein klein wenig Hoffnung.
Es verging eine Woche, dann eine zweite und schlie?lich eine dritte. Es wurde Juni und Juli. Fur Aage und Meta waren es qualvolle Monate. Immer haufiger standen sie in der offenen Tur zu Karens Zimmer. Es war ein reizendes Jungmadchenzimmer. Ihre Schlittschuhe standen da, ihre Ballettschuhe, an der Wand hingen Bilder von Klassenkameradinnen und von Primaballerinen. Auch das Foto eines jungen Mannes, des Sohnes der Familie Petersen, fur den sie schwarmte.
Schlie?lich wurden Hansens aufgefordert, in das Buro der Fluchtlingsorganisation zu kommen.
»Wir stehen vor der Tatsache«, sagte die Sachbearbeiterin, »da? alle von uns angestellten Nachforschungen bisher ergebnislos gewesen sind. Das bedeutet aber nichts Endgultiges. Die Sache ist eben schwierig und braucht Zeit. Wenn ich zu entscheiden hatte, so wurde ich Karen davon abraten, allein nach Deutschland zu reisen, ja, nicht einmal in Begleitung von Herrn Hansen. In Deutschland herrscht ein volliges Chaos, und Sie wurden auch dort nichts ausfindig machen, was wir nicht ebensogut von hier aus ermitteln konnten.« Die Dame machte eine Pause, warf den Hansens und Karen einen scheuen Blick von der Seite zu und sagte dann zogernd: »Ich mu? Sie vorsorglich auf etwas aufmerksam machen. Wir bekommen taglich mehr und mehr Meldungen, aus denen hervorgeht, da? etwas ganz Schreckliches geschehen ist. Eine gro?e Anzahl von Juden ist umgebracht worden. Es hat allmahlich den Anschein, da? es sich um Millionen handelt.«
Das war fur die Hansens ein nochmaliger Aufschub. Doch welch entsetzlicher Aufschub! Sollten sie Karen nur deshalb behalten durfen, weil mehr als funfzig ihrer nachsten Angehorigen umgebracht worden waren? Die Hansens wurden unschlussig hin-und hergerissen. Die Entscheidung kam von Karen selbst.
Bei aller Liebe und Zuneigung, die sie fur Aage und Meta Hansen empfunden und von ihnen empfangen hatte, war zwischen ihnen immer eine seltsame, unsichtbare Barriere gewesen. Im Anfang der deutschen Besatzung, als Karen erst acht Jahre alt gewesen war, hatte Aage ihr gesagt, sie durfe nie daruber sprechen, da? sie Judin sei, weil sie dadurch ihr Leben gefahrden wurde. Karen hatte sich daran gehalten, genau wie sie auch sonst Aage in allem gehorchte, da sie ihn liebte und ihm vertraute. Dennoch aber mu?te sie immer wieder daruber nachdenken, wieso sie eigentlich anders war als andere Leute, und wieso sie durch diese ihr nicht verstandliche Andersartigkeit ihr Leben gefahrde. Da sie nie danach fragen konnte, hatte sie auch niemals Aufschlu? daruber bekommen. Dazu kam, da? Karen keinen Kontakt mit anderen Juden gehabt hatte. Sie fuhlte sich nicht anders als andere Danen, und sie wu?te, da? sie auch nicht anders aussah als sie. Dennoch gab es eine unsichtbare, trennende Schranke.
Vielleicht hatte dieses Problem eines Tages von selbst aufgehort, sie zu beschaftigen, doch Aage und Meta erinnerten Karen, ohne es zu wissen und wollen, immer wieder daran. Sie waren glaubige und eifrige Lutheraner, gingen jeden Sonntag mit Karen zur Kirche, und jeden Abend vorm Zubettgehen las Aage aus dem Buch der