herumschleuderte.

Sie horte von General Franz Jacheln, der das Massaker von Babi Yar geleitet hatte. Babi Yar war ein Vorort von Kiew, in dem innerhalb von zwei Tagen 33 000 Juden zusammengetrieben und erschossen wurden. Jubelnde Ukrainer hatten dabei zugesehen.

Sie horte vom anatomischen Institut Professor Hirts in Stra?burg und von seinen Assistenten, und sie sah verstummelte Frauen, die ihnen als Versuchsobjekte gedient hatten.

Dachau war das gro?te »wissenschaftliche« Zentrum gewesen. Sie horte, da? Dr. Heisskeyer dort Kindern Tb-Bazillen einimpfte und ihren Tod beobachtete. Dr. Schutz interessierte sich fur Blutvergiftungen. Dr. Rascher wollte das Leben der deutschen Fliegermannschaften retten, und bei seinen Experimenten mit hohem Luftdruck erfroren menschliche Versuchskaninchen, wahrend man sie sorgfaltig hinter Spezialfenstern beobachtete. Es gab noch weitere Versuche, die die Deutschen in ihrer Reihe »Wahrheit in der Wissenschaft« unternommen hatten. Sie erreichten den Hohepunkt mit dem Versuch der kunstlichen Befruchtung mit Tiersamen bei Frauen.

Karen horte von Wilhaus, dem Lagerkommandanten von Janowka, der den Komponisten Muno beauftragte, den »Todestango« zu schreiben. Diese Musik war fur 200 000 Juden in Janowka die letzte ihres Lebens. Sie horte mehr uber Wilhaus. Sie horte, da? sein Steckenpferd darin bestand, kleine Kinder in die Luft zu werfen, um zu sehen, wie oft man den Korper mit der Pistole treffen konnte, ehe er am Boden aufschlug. Seine Frau Ottilie war ebenfalls ein ausgezeichneter Schutze.

Karen weinte fassungslos. Sie wurde verfolgt von Visionen des Schrecklichen, das sie erfuhr. Sie lag in den Nachten schlaflos, und die Namen aus dem Land des Grauens marterten ihr Gehirn. Hatte man ihren Vater, ihre Mutter und ihre Bruder nach Buchenwald gebracht, oder waren sie in Dachau umgekommen? Vielleicht waren sie in Chelmno, mit einer Million Opfer, oder in Majdanek, mit siebenhundertundfunfzigtausend Menschen umgekommen. Oder in Belzec oder in Treblinka, in Sobibor oder Trawniki, in Poniatow oder Krivoj Rog. Hatte man sie in den Graben von Krasnik erschossen oder auf dem Scheiterhaufen von Klooga verbrannt oder ihre Korper von Hunden in Diedzyn zerrei?en lassen oder in Stutthof zu Tode gefoltert?

Die Peitschenhiebe! Die Eisbader! Der elektrische Stuhl!

Die Lotkolben! Massenmord!

Waren sie im Lager von Choisel oder Dora gewesen, in Gro?-Rosen oder Neuengamme, oder hatten sie den »Todestango« in Janowka horen mussen?

War ihre Familie unter den Toten, deren Korper in Danzig zu Seife verarbeitet wurden?

Der Tod verfolgte die »displaced persons« im Lager von La Ciotat in der Nahe von Marseille in Frankreich.

Karen konnte weder essen noch schlafen. Immer neue Namen horte sie aus dem Land des Grauens. Kivioli, Warka, Magdeburg, Plaszow, Trzebynia, Mauthausen, Sachsenhausen, Oranienburg, Landsberg, Bergen-Belsen, Rensdorf, Blizin.

Flossenburg! Ravensbruck! Natzweiler!

Doch alle diese Namen waren harmlos, verglichen mit Auschwitz! Auschwitz, mit seinen drei Millionen Toten! Mit seinen Magazinen, die bis unter die Decke mit Brillen angefullt waren, mit Schuhen, mit Kleidung, mit Puppen und mit riesigen Ballen menschlichen Haares zur Herstellung von Matratzen! Auschwitz, wo die Goldzahne der Toten sorgfaltig gesammelt und eingeschmolzen wurden. Auschwitz, wo besonders wohlgeformte Totenschadel prapariert und als Briefbeschwerer verwendet wurden; Auschwitz, uber dessen Eingangstor ein Schild hing mit der Inschrift: ARBEIT MACHT FREI.

Karen Hansen-Clement versank in tiefe Melancholie. Sie horte und sah, bis sie nichts mehr sehen und nichts mehr horen konnte. Sie war erschopft und verwirrt, und willenlos. Und dann, wie so oft, wenn man am Ende zu sein glaubt, kam die Wendung, und es ging aufwarts.

Es begann damit, da? sie einem elternlosen Kind zulachelte und uber das Haar strich, und das Kind die Warme ihres Mitgefuhls spurte. Karen vermochte Kindern das zu geben, wonach sie am meisten verlangten: Zartlichkeit. Sie flogen ihr zu. Karen schien instinktiv zu wissen, wie man eine Nase putzt, ein Wehweh heilt oder eine Trane trocknet, und sie konnte in vielen Sprachen Geschichten erzahlen und Lieder am Klavier singen.

Sie sturzte sich mit einem Eifer in die Arbeit, nahm sich der kleineren Kinder so vollig an, da? sie daruber sogar den eigenen Schmerz ein wenig verga?. Ihre Geduld war unermudlich, und immer hatte sie Zeit und Kraft fur andere.

In La Ciotat verlebte sie ihren funfzehnten Geburtstag. Gewi?, Karen war halsstarrig, aber sie klammerte sich voller Zuversicht an zwei gro?e Hoffnungen. Ihr Vater war ein prominenter Mann, und die Nazis hatten ein Lager gehabt, in dem die Haftlinge weder gequalt noch umgebracht wurden. Das war das Lager Theresienstadt in der Tschechoslowakei. Falls man ihn dorthin gebracht hatte, was durchaus moglich war, dann konnte er noch am Leben sein. Die andere, allerdings schwachere Hoffnung war, da? man viele Wissenschaftler heimlich aus dem Land herausgebracht hatte, auch nachdem sie bereits in Konzentrationslager gekommen waren. Diesen vagen Hoffnungen stand die bestatigte Gewi?heit gegenuber, da? mehr als die Halfte ihrer Verwandten ums Leben gekommen war.

Eines Tages kamen mehrere Dutzend Neuzugange, und das ganze Lager schien uber Nacht vollig verwandelt. Diese Neuen, Mitglieder der Organisation Mossad Aliyah Bet und Palmach, kamen aus Palastina, um die innere Organisation des Lagers in die Hand zu nehmen.

Einige Tage nach ihrer Ankunft tanzte Karen fur ihre kleinen Schutzlinge, zum erstenmal wieder seit dem Sommer. Von diesem Augenblick an wurde sie immer wieder aufgefordert, zu tanzen, und bald gehorte sie zu den popularsten Insassen des ganzen Lagers. Ihr Ruhm drang sogar bis nach Marseille, wohin sie fahren mu?te, als sie aufgefordert wurde, in der Weihnachtsauffuhrung die Nu?knacker-Suite zu tanzen.

WEIHNACHTEN 1945

Die Einsamkeit des ersten Weihnachtsfestes fern von den Hansens war schrecklich. Die Halfte der Kinder von La Ciotat waren nach Marseille gekommen, um Karen tanzen zu sehen, und Karen tanzte an diesem Abend, wie sie noch nie getanzt hatte.

Nach der Vorstellung kam ein Madchen aus Palastina, eine Palmach-Angehorige namens Galila, die    in    La    Ciotat Gruppenfuhrerin war, zu Karen und bat sie, zu warten, bis alle gegangen waren. Galila liefen die Tranen uber die Wangen, wahrend sie sagte:

»Karen — wir haben soeben die Bestatigung bekommen, da? deine Mutter und deine beiden Bruder in Dachau umgebracht worden sind.«

Karen versank in noch tieferen Gram    als    zuvor.    Der unerschutterliche Mut, der sie bisher aufrechterhalten hatte, verlie? sie. Es war ein Fluch, als Judin geboren zu sein, und nur dieser Fluch, so schien es ihr, hatte sie den wahnsinnigen Entschlu? fassen lassen, aus Danemark wegzugehen.

Allen Kindern in La Ciotat war eines gemeinsam. Sie alle glaubten daran, da? ihre Eltern noch lebten. Und alle warteten auf ein Wunder, das sich aber nie ereignete. Was fur ein Narr war sie gewesen, an dieses Wunder zu glauben!

Als sie nach mehreren Tagen wieder einigerma?en zu sich kam, schuttete sie Galila ihr Herz aus. Sie meinte, es wurde uber ihre Kraft gehen, untatig dazusitzen und auf die Nachricht zu warten, da? auch ihr Vater tot sei.

Galila, das Madchen aus Palastina und ihre einzige Vertraute im Lager, war der Meinung, da? Karen, wie alle Juden, nach Palastina gehen sollte. Palastina sei der einzige Ort, wo    man als Jude ein menschenwurdiges Leben fuhren konne, erklarte Galila.    Doch Karen, deren Hoffnung vernichtet war, wollte vom ganzen Judentum nichts mehr wissen; denn es hatte ihr nur Ungluck gebracht, und von ihr ubriggeblieben war einzig eine Danin, Karen Hansen. Nachts schlug sich Karen mit der gleichen Frage herum wie jeder Jude, seit vor zweitausend Jahren der Tempel in Jerusalem zerstort und die Juden in alle vier Winde zerstreut worden waren, um seitdem ruhelos uber die Erde zu wandern. Sie fragte sich: »Warum gerade ich?«

Mit jedem Tag kam sie dem Augenblick naher, da sie den Hansens schreiben wollte, um sie zu bitten, fur immer zu ihnen zuruckkehren zu durfen.

Dann aber kam eines Morgens Galila in Karens Baracke gesturzt und zerrte sie zum Verwaltungsgebaude, wo Karen mit einem Mann namens Dr. Brenner bekannt gemacht wurde, einem Fluchtling, der neu nach La Ciotat gekommen war.

»O mein Gott!« rief Karen, als sie die Nachricht erfuhr. »Sind Sie sicher?«

»Ja«, sagte Dr. Brenner, »ich bin vollig sicher. Sehen Sie, Ihr Vater ist ein alter Bekannter von mir. Ich hatte einen Lehrstuhl in Berlin. Wir haben haufig miteinander korrespondiert, und wir haben uns auf Tagungen getroffen. Ja, Sie konnen mir glauben, wir waren zusammen in Theresienstadt, und ich habe ihn noch kurz vor Kriegsende dort

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