Psalmen vor. Karen hutete die kleine, in Schweinsleder gebundene Bibel, die sie zu ihrem zehnten Geburtstag von den Hansens geschenkt bekommen hatte, wie einen Schatz, und sie las begeistert die wunderbaren und marchenhaften Geschichten, besonders die aus dem Buch der Richter, dem Buch Samuel und dem Buch der Konige. In der Bibel zu lesen, das war genauso aufregend und wunderbar, wie in Andersens Marchen.

Doch in der Bibel war so vieles, was Karen nicht verstand, was sie beunruhigte. Oftmals wunschte sie sich, mit Aage uber alles sprechen zu konnen. Jesus war ja auch Jude gewesen und seine Mutter und alle seine Junger waren Juden. Das ganze Alte Testament, das Karen besonders faszinierend fand, handelte ausschlie?lich von den Juden. Und hie? es nicht immer wieder, da? die Juden das Volk waren, das Gott auserwahlt hatte?

Wenn das wahr war, wie konnte es dann so gefahrlich sein, Jude zu sein, und woher kam es dann, da? die Juden so geha?t wurden? Je alter Karen wurde, desto intensiver suchte sie nach einer Antwort auf diese Fragen. Als sie vierzehn war, konnte sie sich schon vieles von dem, was in der Bibel stand, zurechtlegen und ausdeuten. Fast alles, was Jesus gelehrt hatte, war schon im Alten Testament niedergelegt. Und das war das gro?te von allen Ratseln: sollte Jesus erneut auf die Erde kommen, so wurde er, das stand fur Karen fest, bestimmt lieber in eine Synagoge gehen als in eine Kirche. Wie konnten Menschen Jesus verehren und Gottes auserwahltes Volk hassen?

An ihrem vierzehnten Geburtstag ereignete sich noch etwas anderes, was Karen aufmerksam und nachdenklich machte. In diesem Alter wurden die danischen Madchen konfirmiert, und die Konfirmation war eine feierliche und festliche Sache. Karen war als Danin und als Christin herangewachsen, dennoch hatten die Hansens wegen der Konfirmation Bedenken. Sie sprachen daruber, und Aage und Meta waren sich einig, da? sie keine Entscheidung fallen konnten in einer Frage, die bereits durch Gott entschieden war. So sagten sie Karen eines Abends, da? sie die Konfirmation mit Rucksicht auf den Krieg und die Unsicherheit der Verhaltnisse lieber verschieben wollten. Doch Karen ahnte den wahren Grund.

Als sie damals zu den Hansens gekommen war, hatte sie nach Liebe und nach Schutz verlangt. Jetzt aber hatte sie ein gro?eres Verlangen: sie wollte wissen, woher sie kam und wer sie war. Und sie wollte wissen, was es eigentlich bedeutete, Jude zu sein. All diese brennenden Fragen hatte sie bisher verdrangt, um fur immer als Danin unter Danen leben zu konnen. Jetzt war ihr das nicht mehr moglich.

Als sich der Krieg seinem Ende naherte, begriff Karen, da? sie nicht bei den Hansens bleiben konnte, und sie bereitete sich innerlich auf den Schock der unvermeidlichen Trennung vor. Karen Hansen zu sein, das war nur eine Rolle, die sie gespielt hatte. Jetzt wurde es fur sie eine Sache von hochster Wichtigkeit, Karen Clement zu werden. Sie versuchte, Einzelheiten ihrer Vergangenheit zu rekonstruieren, sich an ihren Vater zu erinnern, an ihre Mutter und an ihre Bruder. Erinnerungen tauchten wieder vor ihr auf, undeutlich und ohne Zusammenhang. Immer wieder stellte sie sich vor, wie es sein wurde, wenn sie wieder mit ihren Eltern und Geschwistern vereint ware.

Als dann das Ende des Krieges kam, war Karen vorbereitet und gefa?t. Einige Monate nach Kriegsende eroffnete sie eines Abends den Hansens, da? sie sich aufmachen wolle, um ihre Eltern zu suchen. Sie sagte ihnen, da? sie mit der Dame im Buro der Fluchtlingsorganisation gesprochen habe, und da? die Aussichten, ihre Familie zu finden, gro?er seien, wenn sie sich in ein Lager fur Zwangsverschleppte in Schweden begabe. In Wirklichkeit waren die Aussichten nicht gro?er, als wenn sie in Kopenhagen geblieben ware, doch sie ertrug es nicht, den Abschiedsschmerz der Hansens zu verlangern.

Karen blutete das Herz. Sie hatte mehr Mitleid mit Aage und Meta als mit sich selbst. Mit dem Versprechen, ihnen zu schreiben, und mit der schwachen Hoffnung, sie irgendwann einmal wiederzusehen, uberlie? sich Karen Hansen-Clement, vierzehn Jahre alt, dem endlosen Strom der Menschen, die der Krieg von Heim und Herd vertrieben hatte.

XIV.

Die ersten Monate fern von Danemark waren wie ein boser Traum. Bisher war sie immer behutet und beschutzt gewesen, jetzt erschrak sie vor der rauhen Wirklichkeit. Doch eine unbeugsame Entschlossenheit trieb sie auf ihrem Weg voran.

Dieser Weg fuhrte sie zunachst in ein Lager in Schweden, und von dort auf ein Schlo? in Belgien, wo es von Menschen ohne Heim, Habe und Ziel wimmelte. Es waren Menschen, die in Konzentrationslagern gesessen hatten, Menschen, die geflohen und untergetaucht waren, die sich verborgen gehalten hatten, die als Partisanen gekampft und in den Waldern und auf den Bergen gelebt hatten, es waren Angehorige aus dem zahllosen Heer der Zwangsarbeiter. Jeder Tag brachte ungewisse Geruchte und neue schreckliche Gewi?heiten. Jeder Tag brachte fur Karen immer neue erschutternde Nachrichten. Funfundzwanzig Millionen Tote — das war die grauenhafte Ernte des Krieges.

Von Belgien fuhrte sie der Weg nach Frankreich, nach La Ciotat, einem Lager fur Zwangsverschleppte am Golfe du Lion, einige Meilen von Marseille entfernt. Das Lager war ein freudloser Ort. Auf engem Raum standen dustere Zementbaracken, die in einem Meer von Schlamm zu versinken schienen. Von Tag zu Tag stieg die Zahl der Fluchtlinge, die sich hier ansammelten. Das Lager war uberfullt, es fehlte an allem, und die Lagerinsassen schienen auch hier vom Schreckgespenst des Todes verfolgt zu sein. Fur diese Menschen war ganz Europa zu einem einzigen Sarg geworden.

Massenmord! Ausrottung! Ein Totentanz von sechs Millionen! Hier horte Karen die Namen Himmler und Frank, sie horte von Streicher, von Kaltenbrunner und von Heydrich. Sie horte von Ilse Koch, die Lampenschirme aus tatowierter Menschenhaut hergestellt hatte, von Dieter Wisliczeny, der als Leithammel die Schafe zur Schlachtbank gefuhrt hatte. Sie horte von Kramer, der Spezialist im Auspeitschen nackter Frauen gewesen war, und sie erfuhr den Namen des gro?ten Verbrechers: Eichmann, dem Meister im Massenmord.

Sie horte die Namen all der anderen, die sich an unmenschlicher Grausamkeit gegenseitig zu uberbieten versucht hatten.

Karen verwunschte den Tag, an dem sie die verschlossene Tur mit der Inschrift »Jude« geoffnet hatte, denn hinter dieser Tur war der Tod. Es verging kaum ein Tag ohne eine weitere Bestatigung, da? noch einer ihrer Verwandten umgekommen war.

Massenmord — ausgefuhrt mit der Prazision einer Maschine. Anfangs waren die Methoden noch primitiv. Die Opfer wurden erschossen. Dann entwickelte man Wagen, in denen die Haftlinge auf der Fahrt zum Massengrab vergast wurden. Doch auch diese Gaswagen arbeiteten nicht schnell genug. Als nachstes erdachte man Verbrennungsofen und Gaskammern, in denen innerhalb einer halben Stunde zweitausend Menschen umgebracht werden konnten; das ergab in einem der gro?ten Lager an »guten« Tagen zehntausend Tote. Die Organisation und die Methode erwiesen sich als wirkungsvoll, und die Ausrottung nahm planma?ig und in gro?em Ma?stab ihren Verlauf.

Karen horte von Tausenden von Gefangenen, die sich selbst in den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun geworfen hatten, um so den Gaskammern zu entgehen.

Karen horte von Hunderten, ja Tausenden, die von Hunger und Seuche angefallen wurden und deren ausgemergelte Korper, zwischen die man Holzscheite gelegt hatte, dann in Graben geworfen und mit Benzin begossen worden waren.

Karen horte von dem Tauschungsmanover, das man veranstaltete, um kleine Kinder ihren Muttern zu entrei?en, indem man eine Umordnung des Lagers vorschutzte. Sie horte von Zugen, in die Alte und Schwache, eng aneinandergedrangt, geworfen wurden. Karen horte von den Entlausungskammern, in denen man den Gefangenen Seifenstucke in die Hand gegeben hatte. Die Raume waren Gaskammern und die Seife war aus Stein.

Karen horte von Muttern, die ihre Kinder in den Kleidern versteckten, die sie an Haken hangen mu?ten, ehe man sie in die Gaskammern fuhrte. Aber die Deutschen kannten den Trick und fanden die Kleinen immer.

Karen horte von Tausenden, die nackt neben den Grabern knieten, die sie selbst gegraben hatten, von Vatern, die ihre Hande uber die Augen der Sohne legen mu?ten, wenn Deutsche ihnen mit Pistolen den Genickschu? gaben.

Sie horte von SS-Hauptsturmfuhrer Fritz Gebauer, der sich auf das Erdrosseln von Frauen spezialisiert hatte und der gern zusah, wenn Kinder in Fassern mit Eiswasser erfroren.

Sie horte von Heinen, der eine Methode erfand, wie man mehrere Leute in eine Reihe aufstellen und durch eine einzige Kugel umbringen konnte. Er versuchte von Mal zu Mal, seinen eigenen Rekord zu uberbieten.

Sie horte von Franz Warzok, der Wetten daruber abschlo?, wie lange ein menschliches Wesen am Leben bleibt, wenn man es an den Fu?en aufhing.

Sie horte von Obersturmbannfuhrer Rokita, der Korper in einzelne Teile zerri?.

Sie horte von Steiner, der die Kopfe und Bauche von Gefangenen durchbohrte, ihnen die Fingernagel herausri? und die Augen herausdruckte und der gern nackte Frauen bei den Haaren fa?te und sie im Kreis

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