gesehen.«
XV.
Eine Woche spater bekam Karen einen Brief von den Hansens, mit der Mitteilung, da? die Fluchtlingsorganisation um Auskunft uber Karens Aufenthalt gebeten und au?erdem angefragt habe, ob das Ehepaar Hansen irgend etwas uber Karens Mutter oder ihre Bruder wu?te.
Man nahm an, da? die Anfrage von Johann Clement kam oder von jemandem, der in seinem Auftrag handelte. Karen schlo? daraus, da? ihr Vater und ihre Mutter voneinander getrennt worden waren, und ihr Vater keine Kenntnis vom Tod ihrer Mutter und ihrer Bruder hatte. Der nachste Brief von den Hansens teilte mit, da? sie zwar geantwortet hatten, die Fluchtlingsorganisation aber den Kontakt mit Clement verloren habe.
Er lebte! Die vielen und langen Monate, die sie in den Lagern in Schweden, in Belgien und in La Ciotat zugebracht hatte, hatten sich also doch gelohnt! Noch einmal fand sie den Mut, nach ihrer Vergangenheit zu forschen.
Karen wunderte sich, wieso La Ciotat durch Geldspenden von Juden, die in Amerika lebten, finanziert wurde. Alle Nationen waren im Lager vertreten, aber keine Amerikaner. Sie fragte Galila, die aber zuckte nur die Achseln und sagte »Zionismus, das ist, wenn jemand einen anderen um Geld bittet, um es einem dritten zu geben, damit ein vierter nach Palastina kann«.
»Wie schon«, meinte Karen, »da? wir Freunde haben, die zusammenhalten.«
»Wir haben allerdings auch Feinde, die zusammenhalten«, antwortete Galila.
Die Insassen des Lagers La Ciotat waren ihrem Aussehen und ihrem Verhalten nach wahrhaftig nicht anders als andere Menschen, stellte Karen fest. Die meisten von ihnen waren durch die Tatsache, da? sie Juden waren, genauso verwirrt wie sie selbst.
Als sie genugend Hebraisch gelernt hatte, um sich allein zurechtzufinden, wagte sie sich in den Teil des Lagers, in dem die orthodoxen Juden untergebracht waren, und beobachtete dort die fur sie seltsamen rituellen Handlungen, die Gebete und die Kleidung dieser Leute. Das Judentum war unabsehbar wie ein Meer, und ein funfzehnjahriges Madchen konnte darin wahrhaftig ertrinken. Die judische Religion beruhte auf einem umfassenden System von Gesetzen. Einige davon waren schriftlich festgelegt, und einige nur mundlich uberliefert. Sie erstreckten sich bis in die kleinsten Kleinigkeiten, so zum Beispiel gab es eine Vorschrift, wie man auf einem Kamel zu beten habe. Der heilige Kern dieser Religion waren die funf Bucher Moses, die Thora.
Von neuem versuchte Karen, in der Bibel Antwort auf ihre Fragen zu finden, und von neuem geriet sie dabei in Verwirrung. Wie konnte es Gott zulassen, da? man sechs Millionen seines auserwahlten Volkes umbrachte? Karen kam zu dem Schlu?, da? nur die Erfahrung, das Leben selbst, ihr eines Tages die Antwort auf diese Fragen geben wurde.
Die Insassen des Lagers La Ciotat brannten vor Begierde, Europa hinter sich zu lassen und nach Palastina zu kommen. Das einzige, was sie daran hinderte, sich in einen wilden Mob zu verwandeln, war die Anwesenheit der Palmach-Angehorigen aus Palastina.
Vor einem Jahr hatten alle vorubergehend neue Hoffnung geschopft, als die Labour-Partei ans Ruder gekommen war und England versprochen hatte, aus Palastina ein Mustermandat ohne Einwanderungsbeschrankung zu machen. Es war sogar die Rede davon gewesen, Palastina zu einem Bestandteil des Britischen Commonwealth zu machen. Doch diese Versprechungen platzten, als die Labour-Regierung ihr Ohr der Stimme des schwarzen Goldes lieh, das unter den Wusten Arabiens lag. Wie schon einmal vor funfundzwanzig Jahren wurde die Entscheidung verschoben, und anstelle einer Entscheidung gab es Kommissionen, Untersuchungen und Palaver.
Doch das anderte nichts an dem brennenden Verlangen der Juden von La Ciotat, nach Palastina zu kommen. Agenten von Mossad Aliyah Bet fuhren uberall in Europa herum, sammelten die judischen Uberlebenden und brachten sie uber die Grenzen, mit Bestechung, mit gefalschten oder gestohlenen Papieren, mit List und notfalls auch mit Gewalt.
Frankreich und Italien hatten sich von Anfang an auf die Seite der Fluchtlinge gestellt und arbeiteten mit den Mossad-Leuten Hand in Hand. Sie offneten dem Fluchtlingsstrom ihre Grenzen und errichteten Lager. Italien war darin allerdings sehr behindert, weil es von den Englandern besetzt war. Daher verlagerte sich das Schwergewicht nach Frankreich.
Bald konnten die Lager wie das bei La Ciotat die Massen der Fluchtlinge kaum noch fassen. Mossad Aliyah Bet befurwortete deshalb die illegale Einwanderung. In allen europaischen Hafen waren Mossad-Agenten am Werk, die mit dem Geld, das ihnen von amerikanischen Juden zur Verfugung gestellt worden war, Schiffe kauften und reparieren lie?en, um die britische Blockade zu durchbrechen. Die Englander sperrten mit ihrer Flotte nicht nur den Seeweg nach Palastina; sie bedienten sich auch ihrer Gesandtschaften und Konsulate, um Gegenspionage gegen Mossad Aliyah Bet zu treiben.
Kleine, kummerliche Schiffe, bis an die Grenze der Tragfahigkeit mit verzweifelten Menschen beladen, stachen mit Kurs auf Palastina in See, um zumeist von den Englandern aufgebracht zu werden, sobald sie die Drei-Meilen-Zone erreicht hatten. Die illegalen Einwanderer wurden interniert, wieder einmal waren die Fluchtlinge in einem Lager gelandet. Diesmal war es ein Lager in Palastina, bei Atlit.
Nachdem Karen erfahren hatte, da? ihr Vater lebte, brannte auch sie darauf, nach Palastina zu gelangen. Denn es schien ihr selbstverstandlich, da? ihr Vater gleichfalls dorthin kommen werde. Obwohl sie erst funfzehn war, wurde sie zu den Zusammenkunften des Palmach hinzugezogen, die nachts am Lagerfeuer stattfanden und bei denen wunderbare Geschichten von Erez Israel erzahlt wurden. Sie wurde zur Abschnittsleiterin ernannt und bekam die Aufsicht uber hundert Kinder, die sie fur den Augenblick vorzubereiten hatte, da sie sich an Bord eines Mossad- Schiffes begeben sollten, um die Blockade zu durchbrechen und Palastina zu erreichen. Die britische Einwanderungsquote fur Palastina betrug monatlich nur funfzehnhundert, und die Englander wahlten immer Leute aus, die entweder zu alt oder noch zu jung waren, um zu kampfen. Die Manner lie?en sich Barte wachsen und farbten sich die Haare grau, um alt auszusehen, doch darauf fielen die Englander nur selten herein.
Eines Tages im April des Jahres 1946, neun Monate, nachdem Karen aus Danemark fortgegangen war, teilte ihr Galila die gro?e Neuigkeit mit.
»In den nachsten Tagen kommt ein Aliyah-Bet-Schiff, und du und deine Kinder fahren mit.«
Karens Herz schlug.
»Und wie hei?t das Schiff?« fragte sie.
»Es hei?t Stern Davids«, antwortete Galila.
XVI.
Bei der britischen CID war man uber den agaischen Trampdampfer Karpathos sehr genau im Bilde. Man wu?te, wann die Karpathos in Saloniki von Mossad Aliyah Bet erworben worden war. Man hatte den Weg des funfundvierzig Jahre alten Schiffes von achthundert Tonnen zum Piraus, dem Hafen von Athen, verfolgt, wo eine amerikanische Aliyah-Bet-Crew an Bord kam und mit der Karpathos nach Genua gelangte. Man hatte beobachtet, wie die Karpathos dort ausgebessert und zum Blockadebrecher umgebaut wurde, und man wu?te den genauen Zeitpunkt, an dem das Schiff von Genua ausgelaufen war und sich auf den Weg zum Golfe du Lion begeben hatte.
An der ganzen sudfranzosischen Kuste wimmelte es von Agenten der CID. Rund um das Lager von La Ciotat waren Posten verteilt, die Tag und Nacht Ausschau hielten, um Anzeichen irgendeiner Bewegung gro?eren Ausma?es zu entdecken. Ein Dutzend wichtiger und unwichtiger franzosischer Beamter wurde bestochen. Whitehall versuchte Druck auf Paris auszuuben, um zu verhindern, da? die Karpathos in franzosische Gewasser hineingelangte. Doch der politische Druck und die Bestechungsgelder der Englander vermochten die Zusammenarbeit zwischen den Franzosen und Mossad Aliyah Bet nicht zu storen. Die Karpathos erreichte die Drei-Meilen-Zone.
Die nachste Phase des Spiels bestand aus einer Reihe von Tauschungsmanovern, die das Ziel hatten, die Englander hinters Licht zu fuhren und abzulenken. Wagenkolonnen, von franzosischen Fuhrunternehmern zur Verfugung gestellt und von franzosischen Fahrern gesteuert, verlie?en mehrfach in verschiedenen Richtungen das Lager. Als die Englander schlie?lich vollig verwirrt waren, erfolgte der eigentliche Ausbruch. Sechzehnhundert Fluchtlinge, darunter Karen mit ihren hundert Kindern, wurden eilig aus dem Lager heraus und zu einem geheimen Treffpunkt an der Kuste gebracht. Das gesamte Gebiet war nach au?en hin in weitem Umkreis durch franzosisches Militar abgeriegelt. An einer unbeobachteten Stelle der Kuste wurden die Fluchtlinge aus den Lastwagen ausgeladen und in Schlauchbooten zu der alten Karpathos hinausgebracht, die drau?en vor der Kuste vor Anker lag.
Die ganze Nacht fuhren die Schlauchboote zwischen der Kuste und dem Schiff hin und her. Die