dann mochte ich, da? jeder, der dazu imstande ist, sich an die Arbeit macht, das Schiff zu saubern.«

Kitty war stundenlang fieberhaft tatig, um den Tod abzuwehren. Doch es war, als wollte man den Ozean mit einem Loffel ausschopfen. Kaum hatte sie das eine Kind notdurftig versorgt, da verschlimmerte sich der Zustand bei drei anderen Kindern bedrohlich. Es fehlte an Medikamenten, an Wasser. Und Nahrung, das einzige, was den Kindern wirklich geholfen hatte, durfte sie ihnen nicht geben.

HUNGERSTREIK: 81 STUNDEN

Siebzig Kinder lagen bewu?tlos auf dem Vorderdeck der Exodus. Die englischen Soldaten auf dem Kai begannen zu murren. Viele von ihnen konnten es nicht mehr mitansehen und baten darum, abgelost zu werden, selbst auf die Gefahr hin, vor ein Kriegsgericht zu kommen.

HUNGERSTREIK: 82 STUNDEN

Karen Hansen-Clement wurde bewu?tlos auf das Vorderdeck gebracht.

HUNGERSTREIK: 83 STUNDEN

Kitty kam in das Ruderhaus und sank erschopft auf einen Stuhl. Sie hatte funfunddrei?ig Stunden lang pausenlos gearbeitet; sie war erschopft und halb betaubt. Ari go? ihr einen kraftigen Schluck Brandy ein.

»Da«, sagte er, »trinken Sie das mal. Sie befinden sich ja nicht im Hungerstreik.«

Sie schluckte den Brandy hinunter, und ein zweites Glas lie? sie wieder zu sich kommen. Sie sah Ari ben Kanaan lange und eindringlich an. Er war ein Mann von ungewohnlicher Kraft. Die Belagerung schien ihm so gut wie gar nicht zugesetzt zu haben. Sie sah in seine kalten Augen und fragte sich, was fur Gedanken, was fur Plane, was fur Anschlage ihm wohl durch den Kopf gehen mochten. Sie fragte sich, ob er Angst hatte, ob er uberhaupt wu?te, was Angst war. Sie fragte sich, ob er bekummert oder erschuttert sei.

»Ich hatte erwartet, da? Sie viel eher hierherkommen wurden«, sagte er.

»Ich komme nicht, um etwas von Ihnen zu erbitten, Ari ben Kanaan. Ich will nur Meldung erstatten, wie ein Soldat, der seine Pflicht tut. Ben Kanaan und Gott — ist das so richtig, in dieser Reihenfolge? Wenigstens zehn der Kinder schweben in Lebensgefahr. Wenn der Hungerstreik weitergeht, werden sie sterben. Wie entscheiden Sie als oberster Richter uber Leben und Tod?«

»Es ist nicht das erstemal, da? man mich beschimpft, Kitty. Das la?t mich kalt. Wie aber steht es bei Ihnen: ist Ihr menschliches Mitgefuhl so gro?, da? Ihnen beim Anblick all dieser Kinder das Herz bricht, oder gilt Ihr Appell nur dem Leben eines dieser Kinder?« »Sie haben kein Recht, mich das zu fragen.«

»Ihnen geht es um das Leben eines Madchens. Mir geht es um das Leben einer Viertelmillion Menschen.«

Kitty stand auf. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe wieder an meine Arbeit. Horen Sie, Ari — Sie haben gewu?t, aus welchem Grund ich an Bord kommen wollte. Warum haben Sie es mir erlaubt?«

Er wandte ihr den Rucken zu und sah durch das Fenster hinaus auf das Meer, wo die Kreuzer und Zerstorer Wache hielten. »Vielleicht, weil ich Sie gern sehen wollte.«

HUNGERSTREIK: 85 STUNDEN

General Sir Clarence Tevor-Browne ging unruhig in Sutherlands Buro auf und ab. Die Luft im Raum war blau vom Rauch seiner Zigarre. Von Zeit zu Zeit blieb er am Fenster stehen und sah gespannt durch die schmutzigen Scheiben nach drau?en in die Richtung von Kyrenia.

Sutherland klopfte seine Pfeife aus und musterte die reichhaltige Auswahl von belegten Broten auf dem Teetisch. »Mochten Sie nicht Platz nehmen, Sir Clarence, einen Schluck Tee trinken und etwas essen?«

Tevor-Browne sah auf seine Armbanduhr und seufzte. Er setzte sich, nahm ein Stuck Brot, starrte es an, bi? hinein und legte es hastig wieder aus der Hand. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich esse«, sagte er.

»Ja, das ist kein gutes Geschaft fur einen Mann, der ein Gewissen hat«, sagte Sutherland. »Zwei Kriege, elf Posten in den Kolonien, sechs Auszeichnungen und drei Orden — und jetzt scheitere ich an einem Haufchen unbewaffneter Kinder. Prachtiger Abschlu? einer drei?igjahrigen Dienstzeit, finden Sie nicht auch, Sir Clarence?« Tevor-Browne sah zu Boden.

»Oh, ich wu?te, da? Sie mit mir daruber reden wollten«, sagte Sutherland.

Tevor-Browne schenkte sich Tee ein und seufzte halb verlegen. »Ja, sehen Sie, Bruce — wenn die Entscheidung bei mir lage —.« »Unsinn, Sir Clarence. Sie brauchen sich doch keine Vorwurfe zu machen. Ich mache mir Vorwurfe. Denn ich war es, der versagt und Ihr Vertrauen enttauscht hat.« Sutherland stand auf. Seine Augen brannten. »Ich bin mude«, sagte er, »sehr mude.«

»Wir werden Ihre Pensionierung so unauffallig wie moglich in die Wege leiten, mit vollem Ruhestandsgehalt«, sagte Tevor-Browne.

»Sie konnen sich da ganz auf mich verlassen. Und horen Sie mal, Bruce — ich habe auf dem Wege hierher in Paris Station gemacht und ein langes Gesprach mit Neddie gehabt. Ich habe ihr von Ihren Schwierigkeiten erzahlt. Wenn Sie ihr ein gutes Wort geben, dann konnten Sie beide wieder zusammenkommen. Neddie mochte gern zu Ihnen zuruck, und Sie werden sie notig haben.«

Sutherland schuttelte den Kopf. »Zwischen Neddie und mir ist es seit Jahren aus. Das einzig sinnvolle Bindeglied, das es jemals zwischen uns gab, war die Armee.«

»Haben Sie schon irgendwelche Plane?«

»Diese Monate hier auf Zypern haben in mir etwas bewirkt, Sir Clarence, besonders die letzten Wochen. Sie mogen da vielleicht anderer Ansicht sein, aber ich habe nicht das Gefuhl, eine Niederlage erlitten zu haben. Ich habe ganz im Gegenteil das Gefuhl, vielleicht etwas sehr Wertvolles gewonnen zu haben. Etwas, das ich vor langer Zeit verloren hatte.«

»Und was ist das?«

»Das Recht. Erinnern Sie sich? Als ich diesen Posten ubernahm, da sagten Sie mir, das einzige Reich, das auf Gerechtigkeit beruhe, sei das Reich Gottes, wahrend die Reiche dieser Welt auf dem Ol beruhen.«

»Ich erinnere mich noch sehr genau«, sagte Tevor-Browne.

»Ich habe sehr oft daran denken mussen«, sagte Sutherland, »seit dieser Sache mit der Exodus. Mein ganzes Leben lang habe ich den Unterschied zwischen Recht und Unrecht gekannt. Die meisten von uns kennen ihn. Ihn zu kennen, ist noch nicht dasselbe, wie danach zu leben. Wie oft im Leben tut jemand Dinge, die sein Gewissen belasten, um seine Existenz nicht zu gefahrden. Wie habe ich die seltenen Ausnahmemenschen bewundert, die die Kraft hatten, fur ihre Uberzeugung einzutreten, selbst wenn dies Schande, Folter oder sogar ihren Tod bedeutete. Was fur ein wunderbares Gefuhl inneren Friedens mussen diese Menschen haben, so ein Mann wie Gandhi. Sie fragten mich nach meinen Planen. Ich habe die Absicht, mich in diesen armseligen Landstrich zu begeben, den die Juden ihr Himmelreich auf Erden nennen. Ich mochte das alles kennenlernen —    Galilaa — Jerusalem — alles.«

»Ich beneide Sie, Bruce.«

»Vielleicht werde ich mich in der Nahe von Safed zur Ruhe setzen —    auf dem Berge Kanaan.«

Major Alistair kam herein. Er war bleich, und seine Hand zitterte, als er Tevor-Browne eine Meldung uberreichte. Tevor-Browne las sie. »Gott sei uns allen gnadig«, sagte er leise und gab die Meldung an Bruce Sutherland weiter.

DRINGEND

Ari ben Kanaan, der Sprecher der Exodus, hat bekanntgegeben, da? ab morgen mittag 12 Uhr taglich zehn Freiwillige auf der Brucke des Schiffes in aller Offentlichkeit und vor den Augen der Englander Selbstmord begehen werden. Diese Protestaktion wird solange fortgesetzt, bis man der Exodus erlaubt, nach Palastina auszulaufen, oder bis an Bord niemand mehr am Leben ist.

Bradshaw, begleitet von Humphrey Crawford und einem halben Dutzend Adjutanten, verlie? London und begab sich eilig in die Stille eines abgelegenen kleines Hauses auf dem Lande. Es blieben ihm noch vierzehn Stunden.

Bei der ganzen Sache hatte er sich schwer verrechnet. Erstens hatte er nicht mit einer solchen Zahigkeit und Entschlossenheit der Kinder an Bord des Schiffes gerechnet. Zweitens hatte er nicht gedacht, da? die Geschichte in der Offentlichkeit soviel Staub aufwirbeln wurde, und schlie?lich hatte er es nicht fur moglich gehalten, da? Ben Kanaan zum Angriff ubergehen und ihn derartig unter Druck setzen wurde. Bradshaw war ein sturer Bursche, doch er wu?te, wann er verloren hatte. Jetzt suchte er krampfhaft nach einem Kompromi?, der es den Englandern ermoglichen sollte, ihr Gesicht zu wahren.

Er gab Crawford und seinen Adjutanten den Auftrag, sich telegrafisch oder telefonisch mit einem Dutzend der einflu?reichsten judischen Burger Englands, Palastinas und der Vereinigten Staaten in Verbindung zu setzen und sie um ihre Intervention zu bitten. Besonders die fuhrenden Kopfe in Palastina konnten Ben Kanaan raten, von seinem

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