Durch den Gang hinter sich blickten sie nun in einen gigantischen Flammenschlund.

Sherlock bedeckte den Mund mit der Hand und fuhrte Matty die Stufen zur obersten Ebene des Forts empor. Er spurte, wie ihnen Luft entgegenstromte. Zweifellos wurde sie das Feuer unter ihnen noch zusatzlich schuren.

Dann hatten sie endlich die Oberflache erreicht. Wachen liefen dort panisch und laut schreiend hin und her. Der Himmel war dunkel, und nur eine zarte rote Linie am Horizont verriet noch, wo die Sonne untergegangen war. In ihrer Panik beachteten die Wachen sie zum Gluck nicht, und die beiden Jungen rannten einfach an ihnen vorbei. In Windeseile hasteten sie die Stufen zum Wasser hinunter und stiegen in das Boot.

Als sie davonruderten, drehte sich Sherlock noch einmal um und blickte zuruck. Mittlerweile stand das gesamte Fort in Flammen und Maupertuis’ Manner sprangen in ihrer Verzweiflung von dem obersten Deck ins Meer hinab. Einige von ihnen brannten. Wie leuchtende Sternschnuppen sturzten sie durch die Dunkelheit in die See.

Es war ein Anblick, den Sherlock niemals vergessen wurde.

Die Fahrt zur britischen Kuste verschwamm in seiner Wahrnehmung zu einem diffusen Nebel aus schmerzenden Armen, qualend brennender versengter Haut und schierer Erschopfung. Noch viel spater fragte Sherlock sich, wie Matty und er es uberhaupt hatten schaffen konnen, ohne zu kentern oder sich zu verirren und aufs offene Meer hinauszutreiben.

Irgendwie hatte Amyus Crowe herausgefunden, wo sie landen wurden. Vielleicht hatte er es anhand von Windrichtung und Tidenstromung vorausberechnet, aber vielleicht hatte er auch nur gut geraten. Sherlock hatte keine Ahnung, und es war ihm auch egal. Er wollte einfach nur in eine warme Decke gehullt und in ein weiches Bett gepackt werden. Und zum ersten Mal seit langer Zeit sollte das, was er wollte, auch tatsachlich in Erfullung gehen.

Als er am nachsten Morgen aufwachte, horte er Mowen vor dem Fenster kreischen, und die von der Meeresoberflache reflektierten Sonnenstrahlen zauberten wellenformige Muster an die Zimmerdecke.

Er war am Verhungern. Er warf die Bettdecke von sich und sah sich um. Uber einer Stuhllehne hingen ein paar Kleidungsstucke fur ihn bereit, die ihm nicht gehorten, doch genau die richtige Gro?e zu haben schienen. Rasch zog er sich an und ging dann auf einer Treppe hinunter, von der er gar nicht mehr wusste, wie er sie hochgekommen war. Die Treppe fuhrte in die Gaststube einer Taverne, die scheinbar Zimmer an Reisende vermietete. Und an Abenteurer.

Die Vorderseite des Gasthauses fuhrte auf eine schmale offene Flache hinaus, die nach einigen Metern jah zum Meer hin abfiel. Im grellen Sonnenlicht musste Sherlock die Augen zunachst zusammenkneifen. Dann erblickte er Matty. Sein Freund sa? drau?en an einem Tisch und vertilgte gerade ein riesiges Fruhstuck. Neben ihm sa? Amyus Crowe und paffte eine Pfeife.

»Morgen«, sagte Crowe in freundlichem Ton. »Hunger?«

»Ich konnte ein Pferd fressen.«

»Lass Ginny das lieber nicht horen.« Crowe wies auf einen Platz am Tisch. »Setz dich. Das Essen wird gleich soweit sein.«

Sherlock setzte sich. Seine Muskeln schmerzten, in den Ohren lautete es immer noch von der Explosion, und seine trockenen Augen brannten. Irgendwie fuhlte er sich anders. Alter. Er hatte nicht nur Menschen sterben sehen, sondern deren Tod in einigen Fallen auch selbst verursacht, er war mit Laudanum betaubt und mit einer Peitsche gefoltert worden. Wie konnte er da jetzt einfach wieder zuruck zur Deepdene-Schule gehen?

»Ist alles klargegangen?«, fragte er schlie?lich.

»Dein Bruder hat die Nachricht, die wir geschickt haben, erhalten und ist gleich aktiv geworden. Soweit ich gehort habe, wurde ein Schiff der Navy zum Fort entsandt. Aber nach dem zu urteilen, was du gestern Nacht noch vor dich hingemurmelt hast, werden sie nicht viel mehr als Asche vorfinden.

Und selbst wenn die britische Regierung die franzosischen Behorden dazu bewegen kann, Maupertuis’ Chateau zu durchsuchen, so glaube ich nicht, dass sie viel mehr als leere Raume vorfinden werden. Er wird samt seiner Dienerschaft geflohen sein. Aber seine Verschworung ist wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Dank dir und Matty.«

»Sein Plan hatte nie funktioniert«, sagte Sherlock und musste an die Auseinandersetzung denken, die Virginia und er mit dem Baron ausgetragen hatten. »Jedenfalls nicht so, wie er es wollte.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ich denke, dass einige Menschen gestorben waren, und ihr habt sie gerettet. Dafur muss man euch danken. Das wird ubrigens auch dein Bruder tun, wenn er kommt.«

»Mycroft kommt hierher?«

»Er sitzt bereits im Zug.«

Eine Frau mit Schurze kam aus der Taverne. Sie trug einen Teller, der mit allem Moglichem beladen war, was man sich fur ein Fruhstuck nur wunschen konnte. Plus diverser Kostlichkeiten, die Sherlock noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Lachelnd stellte sie den Teller vor Sherlock ab.

»Hau rein«, forderte Crowe ihn auf. »Du hast es dir verdient.«

Sherlock hielt einen Moment lang inne. Alles um ihn herum schien auf einmal uberaus scharf umrissen und dennoch gleichzeitig leicht entruckt zu sein.

»Bist du okay?«, fragte Crowe.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Sherlock.

»Du hast eine Menge durchgemacht. Du bist k. o. geschlagen und mit Laudanum betaubt worden. Diverse Schlagereien und einen Rudermarathon nicht zu vergessen. Das muss sich zwangslaufig auf den Organismus auswirken.«

Laudanum. Sherlock musste an die seltsamen Traume denken, die ihn heimgesucht hatten, als er betaubt und nach Frankreich verschleppt worden war. Er empfand einen Anflug von … Ja, von was eigentlich? Melancholie? Vielleicht. Wehmut. Oder gar Verlangen? … Bestimmt nicht. Was immer fur ein Gefuhl es auch sein mochte, er verdrangte es fur den Moment. Er hatte von Leuten gehort, die von der Wirkung des Laudanums abhangig geworden waren, und er verspurte keine Lust, ihrem Beispiel zu folgen. Nicht die geringste.

»Wie geht es Virginia?«, fragte er, um auf andere Gedanken zu kommen.

»Sie ist sauer, dass sie den ganzen Spa? verpasst hat. Und sie vermisst naturlich ihr Pferd. Sie wollte sich ein wenig in der Stadt umsehen, aber ich habe ihr gesagt, dass sie nicht alleine raus darf. Ich denke mal, sie wird froh sein, dass du wieder wach bist.«

Sherlock starrte aufs Meer hinaus. »Ich kann gar nicht glauben, dass jetzt alles vorbei ist«, sagte er.

»Das ist es nicht«, erwiderte Crowe. »Es ist Teil deines Lebens geworden. Du kannst diese Ereignisse nicht einfach als separate Geschichte betrachten, die einen Anfang und ein Ende hat. Du bist jetzt ein anderer geworden, eben wegen dieser Ereignisse. Und das bedeutet, dass die Geschichte niemals wirklich enden wird. Aber als dein Lehrer stellt sich mir da folgende Frage: Was hast du aus dem Ganzen gelernt?«

Sherlock dachte eine Minute lang nach. »Ich habe gelernt«, sagte er schlie?lich, »dass Bienen faszinierende Kreaturen sind, uber die sich die Leute so gut wie keine Gedanken machen. Ich denke, ich mochte mehr uber sie erfahren. Vielleicht sogar versuchen, die Meinung, die man uber sie hat, zu verandern.« Er verzog das Gesicht. »Vermutlich bin ich ihnen das schuldig, wo ich doch so viele von ihnen umgebracht habe.« Er blickte zu Matthew Arnatt hinuber. »Und was ist mit dir, Matty? Was hast du gelernt?«

Matty sah von seinem Fruhstuck auf. »Ich hab gelernt«, sagte er, »dass du jemanden brauchst, der auf dich aufpasst. Denn sonst werden dich deine logischen Einfalle eines Tages noch umbringen.«

»Meldest du dich freiwillig fur diesen Job?«, fragte Amyus Crowe, um dessen Augen sich Lachfaltchen gebildet hatten.

»Keine Ahnung«, antwortete Matty. »Wie is’ denn die Bezahlung?«

Wahrend Amyus Crowe herzhaft lachte und Matty laut protestierend erklarte, es sei sein voller Ernst gewesen, blickte Sherlock gedankenversunken auf das weite und zeitlose Meer hinaus. Was wurde wohl als Nachstes in seinem Leben passieren? Er hatte das Gefuhl, als hatte das Schicksal ihn auf eine Stra?e verschlagen, von deren Existenz er noch gar nichts gewusst hatte, und er fragte sich, was ihn an ihrem Ende erwarten wurde.

Eine Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, erregte seine Aufmerksamkeit. Er blickte an der Taverne vorbei, wo die Stra?e in zwei unterschiedliche Richtungen wegfuhrte. Eine Kutsche naherte sich. Eine schwarze Kutsche, die von zwei schwarzen Pferden gezogen wurde. Einen Moment lang dachte er, dass Mycroft eingetroffen sei. Er wollte sich schon erheben, doch dann erstarrte er.

Frostelnd blickte er in ein kalkwei?es Gesicht und rosafarbene Augen. Einen kurzen Moment lang starrten sie

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