Jennifer.
»Sieh mal, da kommt Shanda. Die hat sich aber machtig rausgeputzt«, sagte Julia. »Ein Gluck, dass Miss Johnson ihre Stockelschuhe nicht gesehen hat!«
Ein livrierter Chauffeur offnete die Tur eines riesigen Cadillacs. Shanda kletterte hinein, und das Auto fuhr ab.
»Ich habe Mum geschrieben, dass ich nachste Woche eine Freundin mitbringen mochte. Du hast doch Lust mitzukommen?«, fragte Jennifer.
»Schrecklich gern. Vielen Dank«, erwiderte Julia. »Sieh nur, wie huldvoll sich Miss Vansittart gibt. Ich konnte mich kranklachen. Sie gibt sich solche Muhe, Miss Bulstrode nachzuahmen. Leider wirkt es nur wie eine Parodie.«
»Guck mal, da ist Pams Mutter mit den beiden kleinen Jungen. Ob die wirklich alle in dem winzigen Morris Platz haben?«
»Sie machen einen Ausflug. Sieh mal die beiden gro?en Picknickkorbe.«
»Was hast du heute Nachmittag vor?«, fragte Jennifer. »Ich brauche nicht nachhause zu schreiben, weil ich Mum ja nachste Woche sehe.«
»Du bist faul, Jennifer.«
»Ich wei? nie, was ich schreiben soll.«
»Mir fallt immer furchtbar viel ein«, erklarte Julia. »Leider hat es fur mich wenig Sinn zu schreiben, weil Mummy in einem Autobus durch Anatolien gondelt.«
»Hat sie dir keine Adresse hinterlassen?«, fragte Jennifer.
»Doch, eine ganze Latte von Konsulaten. Das Erste in Istanbul, dann Ankara und dann irgendein komischer Name, den ich vergessen habe.« Nach kurzer Pause fugte sie nachdenklich hinzu: »Ich mochte nur wissen, warum Bully sich unbedingt mit Mummy in Verbindung setzen wollte.«
»Bestimmt nicht deinetwegen. Du hast doch nichts ausgefressen, Julia – oder?«
»Nicht dass ich wusste«, erwiderte Julia. »Vielleicht wollte sie ihr uber die Springer schreiben.«
»Glaube ich kaum«, meinte Jennifer. »Wahrscheinlich ist sie heilfroh, dass wenigstens eine Mutter nichts von dem Mord wei?.«
»Warum? Glaubst du, dass unsere Mutter furchten, man konnte ihre Tochter ermorden?«
»Ganz so schlimm wird’s wohl nicht sein«, entgegnete Jennifer. »Aber meine Mutter hat sich machtig aufgeregt uber die ganze Sache.«
»Ich hab den Verdacht, dass man uns nur die Halfte erzahlt hat«, au?erte Julia.
»Wie kommst du darauf?«
»Schwer zu sagen, aber es geschehen so sonderbare Dinge. Zum Beispiel die Geschichte mit deinem neuen Tennisschlager.«
»Ja, wirklich, ich wollte dir namlich gerade erzahlen, dass ich mich bei Tante Gina bedankt habe. Daraufhin hat sie mir geschrieben, sie freue sich, dass ich nun einen neuen Tennisschlager hatte, aber
»Ich fand das Ganze von Anfang an hochst mysterios«, verkundete Julia triumphierend. »Und dann ist doch auch bei euch zuhause eingebrochen worden, nicht wahr?«
»Ja, aber gestohlen haben sie nichts.«
»Dadurch wird die Sache nur noch interessanter«, stellte Julia fest. »Ich vermute, dass bald ein zweiter Mord stattfinden wird«, fugte sie duster hinzu.
»Wie kommst du denn nur darauf, Julia?«
»In den meisten Kriminalromanen passiert ein zweiter Mord«, erwiderte Julia. »Ich habe das Gefuhl, dass du dich sehr vorsehen musst, Jennifer, wenn du dem Morder nicht zum Opfer fallen willst.«
»Ich? Warum sollte jemand ein Interesse daran haben, mich zu ermorden?«, fragte Jennifer verblufft.
»Weil du irgendwie in den Fall verwickelt bist«, erklarte Julia. »Wir mussen nachsten Sonntag versuchen, deine Mutter auszuhorchen, Jennifer. Vielleicht hat ihr jemand in Ramat Geheimpapiere ubergeben…«
»Was fur Geheimpapiere?«
»Ach, woher soll ich das wissen«, entgegnete Julia ungeduldig. »Geheimplane, oder eine Formel fur neue Kernwaffen. Es gibt tausend Moglichkeiten.«
Jennifer schuttelte den Kopf.
Miss Vansittart und Miss Chadwick sa?en zusammen im Wohnzimmer, als Miss Rowan hereinkam und fragte:
»Wo ist Shanda? Ich kann sie nirgends finden. Der Wagen des Emirs ist eben angekommen, um sie abzuholen.«
Chaddy blickte erstaunt auf.
»Das muss ein Irrtum sein. Der Wagen des Emirs hat Shanda bereits vor einer Dreiviertelstunde hier abgeholt. Ich habe sie selbst einsteigen und abfahren sehen.«
Eleanor Vansittart zuckte die Achseln.
»Wahrscheinlich sind versehentlich zwei Autos bestellt worden«, meinte sie.
Sie ging hinaus und sprach mit dem Chauffeur.
»Ich verstehe das nicht«, sagte der Fahrer. »Man hat mir gesagt, ich soll die junge Dame aus Meadowbank abholen und nach London bringen.«
»Dann muss es sich um ein Missverstandnis handeln«, erklarte Miss Vansittart.
»Schon moglich«, erwiderte der Fahrer. »In unserer Firma hat sich bestimmt niemand geirrt, aber bei diesen orientalischen Herren, die mit einem ganzen Stab von Leuten reisen, werden manchmal Anweisungen doppelt gegeben. So wird’s wohl gewesen sein.«
Mit diesen Worten wendete er den gro?en Wagen geschickt und fuhr davon.
Miss Vansittart sah ihm einen Augenblick unsicher nach, dann kam sie zum Schluss, dass kein Grund zur Besorgnis vorlag, und sie begann, sich auf einen friedlichen Nachmittag zu freuen.
Nach dem Mittagessen schrieben die wenigen zuruckgebliebenen Schulerinnen Briefe, gingen im Garten spazieren, spielten Tennis oder schwammen.
Miss Vansittart setzte sich unter die Schatten spendende Zeder, um Briefe zu schreiben. Miss Chadwick blieb im Haus, und als um halb funf das Telefon lautete, ging sie an den Apparat.
»Meadowbank?«, fragte eine kultivierte junge Mannerstimme. »Kann ich bitte mit Miss Bulstrode sprechen?«
»Miss Bulstrode ist nicht da. Hier spricht Miss Chadwick.«
»Ich rufe im Auftrag von Emir Ibrahim aus dem ›Claridge‹ an. Es handelt sich um seine Nichte…«
»Um Shanda?«
»Ja. Der Emir ist erstaunt und argerlich, weil man ihm nicht Bescheid gesagt hat.«
»Bescheid? Woruber?«
»Dass seine Nichte nicht kommen kann.«
»Was soll das hei?en? Ist Shanda noch nicht angekommen?«
»Nein, aber wenn ich Sie richtig verstehe, hat sie Meadowbank verlassen.«
»Allerdings. Das Auto hat sie um halb zwolf hier abgeholt.«
»Das verstehe ich nicht. Dann musste sie doch langst hier sein…«
»Hoffentlich hatte sie keinen Unfall«, sagte Miss Chadwick besorgt.
»Man sollte nicht immer gleich an das Schlimmste denken«, erwiderte der junge Mann beruhigend. »Wir oder Sie waren langst benachrichtigt worden, wenn sie einen Unfall gehabt hatte. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Aber Miss Chadwick machte sich Sorgen.
»Ich kann das einfach nicht verstehen«, sagte sie.
»Ware es moglich…«
Der junge Mann zogerte.
»Ja?«, fragte Miss Chadwick.
»Ich habe nicht die Absicht, es dem Emir gegenuber zu erwahnen, aber halten Sie es – im Vertrauen gesagt – fur moglich, dass ein junger Mann dahinter steckt?«
»Das ist vollig ausgeschlossen«, erwiderte Miss Chadwick wurdevoll.
Aber war es wirklich ausgeschlossen? Was wusste man schon von den jungen Madchen?