Sie legte den Horer auf und begab sich, fast widerwillig, auf die Suche nach Miss Vansittart. Es war nicht anzunehmen, dass Miss Vansittart die Lage besser beurteilen konnte als sie, aber Miss Chadwick hielt es fur ihre Pflicht, sie um Rat zu fragen.

»Das zweite Auto…«, sagte Miss Vansittart.

Sie sahen sich wortlos an. Schlie?lich fragte Chaddy zogernd: »Mussten wir nicht die Polizei verstandigen?«

»Nein, bestimmt nicht die Polizei«, erwiderte Miss Vansittart verstort.

»Shanda furchtete, dass jemand sie entfuhren wollte«, entgegnete Chaddy.

»Entfuhrung? Unsinn!«, erwiderte Miss Vansittart scharf. »Miss Bulstrode hat mir fur die Zeit ihrer Abwesenheit die Verantwortung fur die Schule ubertragen. Ich habe nicht die Absicht, diese Angelegenheit der Polizei zu melden und neue Schwierigkeiten heraufzubeschworen.«

Miss Chadwick betrachtete sie missbilligend. Sie hielt Eleanor Vansittarts Entschluss fur kurzsichtig und toricht. Sie ging zuruck ins Haus und rief im Schloss Welsington an. Unglucklicherweise war niemand zuhause.

14

Miss Chadwick warf sich ruhelos von einer Seite auf die andere. Sie zahlte Lammer, sie sagte lange Gedichte auf – alles umsonst. Sie konnte nicht einschlafen.

Als Shanda um zehn Uhr immer noch nicht zuruckgekehrt war und sie auch keine Nachricht von ihr erhalten hatte, beschloss Miss Chadwick, Kommissar Kelsey anzurufen. Zu ihrer Erleichterung schien er die Sache nicht allzu tragisch zu nehmen. Er bat sie, sich nicht zu beunruhigen und alles Weitere ihm zu uberlassen. Er wollte zunachst feststellen, ob Shanda einen Autounfall gehabt hatte; wenn nicht, wurde er sich mit London in Verbindung setzen. Er hielt es auch fur moglich, dass das junge Madchen ihnen einen Streich gespielt hatte. Jedenfalls gab er Miss Chadwick den Rat, in der Schule moglichst wenig daruber verlauten zu lassen und nur anzudeuten, dass Shanda die Nacht bei ihrem Onkel verbracht habe.

»Miss Bulstrode will bestimmt vermeiden, dass diese Sache an die Offentlichkeit dringt«, erklarte Kelsey. »Ich halte eine Entfuhrung fur hochst unwahrscheinlich. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Miss Chadwick. Sie konnen alles Weitere getrost uns uberlassen.«

Aber Miss Chadwick machte sich Sorgen.

Wahrend sie sich schlaflos im Bett walzte, wanderten ihre Gedanken von der Moglichkeit einer Entfuhrung wieder zum Mord.

Mord in Meadowbank. Grauenhaft! Unvorstellbar! Meadowbank.

Miss Chadwick liebte die Schule vielleicht noch mehr als Miss Bulstrode, wenn auch auf eine andere Art. Die Grundung des Internats war ein ungeheurer Entschluss gewesen, der Tatkraft und Mut erfordert hatte. Sie besa?en nicht viel Kapital, und sie riskierten alles. Wie leicht hatte der Versuch misslingen konnen. Miss Bulstrode hatte Freude am Abenteuer, aber Miss Chadwick war immer dafur gewesen, den sicheren Weg zu wahlen. Miss Bulstrode hatte jedoch ihre Vorstellungen verwirklicht, ohne die finanzielle Sicherheit in Betracht zu ziehen, und am Ende damit Recht behalten. Niemand war glucklicher als Chaddy, dass Meadowbank sich zu einer der beruhmtesten englischen Schulen entwickelt hatte. Sie genoss Frieden und Wohlstand wie ein Katzchen die warmenden Sonnenstrahlen.

Sie war au?er sich gewesen, als Miss Bulstrode davon zu sprechen begann, dass sie sich zur Ruhe setzen wollte. Gerade jetzt – auf dem Hohepunkt des Erfolges? Sie hielt es fur eine Verrucktheit. Miss Bulstrode hatte von Reisen gesprochen; man musste doch die Schonheiten der Welt kennen lernen, sagte sie. Aber fur Miss Chadwick gab es nichts Schoneres als Meadowbank – ihr geliebtes Meadowbank. Und jetzt… Mord… Mord im Paradies! Unvorstellbar.

Die arme Miss Springer. Naturlich war es nicht ihre Schuld, und doch, obwohl es ganz unlogisch war, machte Chaddy ihr heimlich Vorwurfe. Ihr bedeuteten die Traditionen von Meadowbank nichts. Sie war eine taktlose Person, die den Mord irgendwie herausgefordert haben musste. Miss Chadwick walzte sich auf die andere Seite und nahm sich vor, an etwas anderes zu denken. Es gelang ihr nicht, und sie beschloss, aufzustehen und zwei Aspirin zu nehmen. Wie spat war es eigentlich? Sie knipste das Licht an und sah auf die Uhr. Es war Viertel vor eins. Genau die Zeit, um die Miss Springer… nein, nein, sie durfte nicht weitergrubeln… Aber es war auch zu dumm gewesen von Miss Springer, ganz allein rauszugehen, ohne jemanden zu wecken…

Miss Chadwick stand auf und ging zum Waschbecken. Sie nahm zwei Aspirin mit einem Schluck Wasser. Auf dem Ruckweg zog sie den Vorhang ein wenig zur Seite und starrte in die Nacht hinaus. Sie tat es fast unbewusst, um ganz sicher zu sein, dass nie wieder mitten in der Nacht in der Turnhalle ein Licht zu sehen sein wurde…

Aber es war ein Licht zu sehen.

Innerhalb einer Minute war Chaddy bereit. Sie zog ein Paar feste Schuhe an, warf einen Mantel uber die Schultern, ergriff eine starke Taschenlampe und lief im Sturmschritt die Treppe hinunter. Obgleich sie es Miss Springer zum Vorwurf gemacht hatte, allein durch den dunklen Garten zur Turnhalle gelaufen zu sein, tat sie jetzt das Gleiche, ohne weiter daruber nachzudenken. Sie musste um jeden Preis herausfinden, wer der Eindringling war. Bevor sie das Haus durch die Seitentur verlie?, ergriff sie eine Waffe – vielleicht keine sehr gute, aber immerhin eine Art Waffe –, dann lief sie atemlos uber den Gartenpfad zur Turnhalle. Erst als sie sich der Tur naherte, bemuhte sie sich, leise aufzutreten. Die Tur stand einen Spalt offen. Sie stie? sie ganz auf und blickte hinein…

Etwa um die Zeit, als Miss Chadwick ihre Aspirin einnahm, sa? Ann Shapland in einem eleganten schwarzen Kleid im »Nid Sauvage« und a? Huhnerfrikassee. Sie lachelte dem ihr gegenubersitzenden jungen Mann freundlich zu. Der gute Dennis andert sich nie, dachte Ann, und deshalb werde ich ihn auch nicht heiraten. Schade, denn eigentlich ist er sehr nett.

»Wie gefallt dir die neue Stellung?«, fragte Dennis.

»Gar nicht schlecht.«

»Mir scheint es nicht ganz das Richtige fur dich zu sein.«

Ann lachte. »Schwer zu sagen, was das Richtige fur mich ist. Jedenfalls liebe ich die Abwechslung, Dennis.«

»Ich habe nie verstanden, warum du deine Stellung bei Sir Mervyn Todhunter aufgegeben hast.«

»Hauptsachlich wegen Sir Mervyn. Seine Frau fand, er schenke mir zu viel Beachtung. Es ist mein Prinzip, die Gattinnen meiner Arbeitgeber niemals zu verargern. Diese Weiber konnen gefahrlich werden… Warum wunderst du dich eigentlich uber meine augenblickliche Stellung?«

»Weil du nicht in eine Schule passt.«

»Nun, ich mochte um nichts auf der Welt Lehrerin sein – zeit meines Lebens ausschlie?lich auf die Gesellschaft von Frauen angewiesen sein! Aber es macht mir Freude, dort als Privatsekretarin der Schulleiterin zu arbeiten. Meadowbank ist immerhin eine fuhrende Schule, und Miss Bulstrode ist ein au?ergewohnlicher Mensch. Ihren scharfen stahlgrauen Augen bleibt nichts verborgen – unmoglich, Geheimnisse vor ihr zu haben. Sie ist streng, aber gerecht.«

»Ich wunschte, du konntest dich entschlie?en, deinen Beruf aufzugeben und Hausfrau zu werden, Ann«, sagte Dennis.

»Du bist zu lieb, Dennis«, erwiderte Ann leichthin.

»Wir wurden uns gut verstehen«, drangte er.

»Ja, ich wei?. Aber ich mochte noch ein wenig warten. Au?erdem muss ich an meine Mutter denken…«

»Du bist zu gut, Ann. Wie oft hast du schon, ohne zu zogern, einen guten Posten aufgegeben, wenn deine Mutter Hilfe brauchte! Aber es gibt heutzutage Heime, in denen solche – solche Leute gut aufgehoben sind – ich spreche nicht etwa von Irrenanstalten, sondern…«

»Ich wei? Bescheid«, unterbrach ihn Ann. »Privatkliniken, die ein Vermogen kosten.«

»Nicht unbedingt. Es gibt Heime fur Kassenpatienten…«

»Vielleicht wird es sich am Ende nicht vermeiden lassen«, erwiderte Ann bitter. »Aber vorlaufig geht es noch so. Ich habe eine nette altere Haushalterin gefunden, die bei Mutter lebt und im Allgemeinen sehr gut mit ihr

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