Sie betrat das Zimmer, machte die Tur hinter sich zu und ging sofort zum Schreibtisch. Der Briefumschlag war nur leicht zugeklebt und lie? sich muhelos offnen. Sie las den Brief stirnrunzelnd. Der Inhalt war vollig belanglos.

Sie klebte den Umschlag wieder zu und legte ihn zuruck auf den Schreibtisch. Dann ging sie in die gegenuberliegende Ecke. Dort blieb sie mit ausgestreckter Hand stehen, denn sie horte Stimmen von der Terrasse unterm Fenster.

Sie erkannte die Stimme der Frau, die in diesem Zimmer wohnte. Es war eine entschlossene, selbstsichere Stimme.

Sie eilte zum Fenster.

Joan Sutcliffe und ihre Tochter Jennifer, ein blasses, aber kraftig gebautes funfzehnjahriges Madchen, standen mit einem gro?en, unglucklich aussehenden Englander auf der Terrasse. Joan redete verargert auf den jungen Konsularbeamten ein.

»Das ist doch einfach lacherlich! Hier ist alles ruhig und normal. Die Leute sind, wie immer, hoflich und nett. Ich halte es fur sinnlose Panikmache.«

»Auch wir hoffen, dass unsere Vorsicht sich als ubertrieben erweisen wird, Mrs Sutcliffe, aber die Verantwortung, die Seine Exzellenz…«

Mrs Sutcliffe lie? ihn nicht weiterreden. Es interessierte sie nicht, ob sich der Botschafter fur sie verantwortlich fuhlte.

»Wir haben sehr viel Gepack, und wir beabsichtigen, am kommenden Mittwoch auf einem Frachter nach England zu fahren. Der Arzt meint, dass die lange Seereise Jennifer gut tun wird. Ich weigere mich entschieden, meine Plane zu andern. Warum sollten wir zuruckfliegen? Wozu diese lacherliche Eile?«

Der ungluckliche junge Mann erklarte, dass Mrs Sutcliffe und ihre Tochter nur bis Aden zu fliegen brauchten; dort konnten sie noch immer das Schiff nehmen.

»Mit dem ganzen Gepack?«

»Ja, daran haben wir naturlich gedacht. Unten steht bereits ein Wagen mit Gepackanhanger. Wir konnen sofort alles aufladen.«

»Also gut.« Mrs Sutcliffe kapitulierte. »Dann werden wir eben packen.«

»Und zwar sofort – wenn ich bitten darf.«

Die Frau in Mrs Sutcliffes Zimmer ging schnell auf die Tur zu. Im Vorbeigehen las sie die Adresse auf einem der Kofferanhangen Sie verlie? das Zimmer und offnete ihre eigene Tur in dem Augenblick, als Mrs Sutcliffe um die Ecke des Korridors bog.

Der Empfangschef folgte ihr auf dem Fu?.

»Ihr Bruder, der Pilot, war hier, Mrs Sutcliffe. Er ist hinauf in Ihr Zimmer gegangen, aber ich glaube, dass er das Hotel schon wieder verlassen hat. Sie mussen ihn gerade verfehlt haben.«

»Wie schade«, erwiderte Mrs Sutcliffe, dann wandte sie sich an Jennifer. »Wahrscheinlich ist Bob auch in unnotiger Panik. Ich selbst habe keine Anzeichen von Unruhe in den Stra?en bemerkt… Die Tur ist nicht verschlossen – wie unzuverlassig das Personal hier ist!«

»Vielleicht hat Onkel Bob vergessen abzuschlie?en«, meinte Jennifer.

»Zu dumm, dass ich ihn nicht gesprochen habe… Ach, hier liegt ja ein Brief.«

Sie riss den Umschlag auf.

»Bob wenigstens ist nicht in Panik verfallen«, sagte sie triumphierend. »Er scheint vollig ahnungslos zu sein. Diese Diplomaten horen das Gras wachsen… Ich hasse es, in der gro?ten Hitze zu packen. Das Zimmer ist wie ein Backofen. So, Jennifer, nimm deine Sachen aus dem Schrank und aus den Schubladen. Wir mussen jetzt alles schnell in die Koffer werfen. Spater konnen wir dann wieder umpacken.«

»Ich habe noch nie eine Revolution erlebt«, stellte Jennifer nachdenklich fest.

»Hier wirst du bestimmt keine erleben«, entgegnete ihre Mutter argerlich. »Ich halte die ganze Aufregung fur grundlos. Nichts wird geschehen.«

Jennifer zeigte sich enttauscht.

3

Etwa sechs Wochen spater klopfte ein junger Mann diskret an die Tur eines Zimmers in Bloomsbury, im Zentrum Londons.

Man bat ihn einzutreten.

In einem kleinen Zimmer sa? ein korpulenter Mann mittleren Alters zusammengesunken an einem Schreibtisch. Sein zerknitterter Anzug war von Zigarrenasche bestaubt. Die Fenster waren geschlossen, und die Luft war zum Ersticken.

»Sie wunschen?«, fragte der Dicke gereizt. Seine Augen waren nur halb geoffnet. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«

Es wurde behauptet, dass Colonel Pikeaway meistens im Begriff sei, einzuschlafen oder aufzuwachen. Au?erdem wollte man wissen, dass er weder Pikeaway hei?e noch Colonel sei. Aber die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist…

»Ein Mr Edmundson vom Auswartigen Amt mochte Sie sprechen, Colonel.«

»Edmundson?« Colonel Pikeaway blinzelte verschlafen. »War der nicht dritter Sekretar bei unserer Botschaft in Ramat, als die Revolution ausbrach?«

»Jawohl, Colonel.«

»Na, dann muss ich ihn wohl empfangen«, brummte Colonel Pikeaway missmutig. Er setzte sich auf und klopfte die Asche von seinem Bauch.

Mr Edmundson war jung, gro? und blond. Er war sehr korrekt gekleidet und verfugte uber entsprechende Manieren, obwohl seine ruhigen Zuge eine gewisse Missbilligung auszudrucken schienen.

»Colonel Pikeaway? Ich bin John Edmundson. Man hat mich zu Ihnen geschickt in der Annahme, dass Sie mich zu sprechen wunschen.«

»Tatsachlich? Wird wohl so sein«, entgegnete der Colonel. »Nehmen Sie Platz«, fugte er hinzu.

Seine Augen begannen wieder zuzufallen, aber bevor sie sich ganz schlossen, begann er zu sprechen.

»Sie waren wahrend der Revolution in Ramat?«

»Ja – es war furchtbar.«

»Das kann ich mir vorstellen. Sie waren ein Freund von Bob Rawlinson, nicht wahr?«

»Ja, ich kenne ihn ziemlich gut.«

»Falsche Zeitform«, erklarte Pikeaway. »Er ist tot.«

»Ja, ich wei?, Colonel, aber ich war nicht ganz sicher…« Er machte eine Pause.

»Hier brauchen Sie kein Blatt vor den Mund zu nehmen«, sagte Colonel Pikeaway. »Wir sind uber alles informiert – jedenfalls tun wir so. Rawlinson war der Pilot des Flugzeugs, in dem Ali Yusuf Ramat am Tag der Revolution verlassen hat. Seitdem ist das Flugzeug verschollen – mag an einem unzuganglichen Ort gelandet oder abgesturzt sein. Die Trummer eines Zweisitzers wurden in den Arolez-Bergen entdeckt. Und zwei Leichen. Die Nachricht wird morgen an die Presse weitergegeben. Stimmt’s?«

Edmundson nickte.

»Wir sind genau im Bilde, dazu sind wir schlie?lich da«, erklarte Pikeaway. »Das Flugzeug mag im Nebel an einem Berg zerschellt sein, aber wir glauben eher an Sabotage. Wahrscheinlich eine Zeitbombe. Wir warten noch auf einen ausfuhrlichen Bericht. Man hat eine Belohnung fur weitere Informationen ausgesetzt, aber die Nachrichten tropfeln nur. Wir haben uns entschlossen, eine Reihe von Sachverstandigen an den Unglucksort zu schicken. Allerdings hat man es unseren Leuten nicht leicht gemacht. Gesuche an die Behorden, Verhandlungen, Bestechungen, Trinkgelder in die ausgestreckten Hande – na, Sie wissen ja Bescheid.«

Er sah Edmundson forschend an.

»Eine traurige Angelegenheit«, sagte Edmundson. »Prinz Ali Yusuf ware ein modernes Staatsoberhaupt mit demokratischen Prinzipien gewesen.«

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