«Haben wir das nicht alle?!« Josh wirft Lilly einen bedeutungsvollen Blick zu. Seit der Sache mit Chad Bingham macht sie das erste Mal einen gesunden, kraftigen Eindruck, fallt ihm auf. Ihr Gesicht hat sich gut erholt, es sind lediglich einige Verfarbungen geblieben. Die Schwellung um ihr Auge ist so gut wie abgeklungen, und sie hinkt auch nicht mehr. «Der alte Bob hat ganze Arbeit bei dir geleistet.«

«Yeah, mir geht es schon viel besser.«

Josh halt am Flussbett inne und wartet auf sie. Bald schon ist sie an seiner Seite. Im hart gewordenen Schlamm des Betts fallen ihm plotzlich Spuren auf. «Sieht ganz so aus, als ob das Rotwild hier entlangkommt. Wir sollten dem Verlauf folgen. Vielleicht stolpern wir ja uber den einen oder anderen Leckerbissen.«

«Konnen wir uns nicht zuerst etwas ausruhen?«

«Guter Vorschlag«, meint Josh und bietet ihr einen Platz auf einem umgefallenen Baumstamm an, den sie dankend annimmt. Er setzt sich neben sie, legt die Flinte auf die Oberschenkel und sto?t einen gewaltigen Seufzer aus. Er kann kaum an sich halten, so gro? ist sein Verlangen, sie zu umarmen. Was zum Teufel ist blo? los mit ihm? Will er jetzt wie ein dummer Teenager inmitten all des Horrors liebestoll durch die Gegend laufen?

Er blickt zu Boden. «Mir gefallt es, wie ihr aufeinander aufpasst, du und der alte Bob.«

«Ja, und du passt auf uns alle auf!«

Josh stohnt erneut auf. «Ich wunschte, ich hatte mich besser um meine Mutter gekummert.«

Lilly schaut ihn an. «Du hast mir nie erzahlt, was passiert ist.«

Josh holt tief Luft. «Na ja, du wei?t ja, dass sie die letzten Jahre nicht so gut drauf war … Hatte ein paarmal damit gerechnet, sie zu verlieren … Aber sie hat lange genug ausgehalten, um …« Er zogert, die Trauer zerrei?t ihn beinahe, baut sich in ihm auf und uberrascht ihn mit ihrer Heftigkeit.

Lilly sieht den Schmerz in seinen Augen. «Ist schon gut, Josh. Wenn du nicht …«

Er winkt schwach ab. »Ach, es macht mir nichts aus, es dir zu erzahlen. Ich habe immer noch jeden Morgen versucht, in die Arbeit zu fahren, immer noch versucht, meinen Lohn einzustreichen, obwohl die Plage schon begonnen hatte. In ihren Anfangen gab es ja nur wenige Berichte von den Dingern. Hab ich dir eigentlich je erzahlt, womit ich mein Brot verdient habe? Meine Berufung, sozusagen?«

»Du hast gesagt, dass du Koch gewesen bist.«

Er nickt ihr zu. »Allerdings. Und nicht von schlechten Eltern, auch wenn Eigenlob stinkt.« Er schaut ihr in die Augen und fahrt in sanftem Tonfall fort: »Hab dir schon immer mal ein vernunftiges Abendessen kochen wollen.« Tranen steigen in seine Augen. »Meine Mutter hat mir das Notwendigste beigebracht, Gott hab sie selig, hat mir gezeigt, wie man einen Brotpudding macht, der Herz und Magen vor Freude hupfen lasst.«

Lilly lachelt ihn an, wird aber auf einmal wieder ernst. »Und was ist mit ihr passiert, Josh?«

Er starrt eine Weile auf die dunne Schneedecke, die auf den Baumen liegt, sammelt Krafte, ehe er weiter erzahlen kann. »Muhammad Ali war ein Nichts gegen meine Mama … sie war eine Kampferin, hat jahrelang gegen ihre Krankheit gekampft. Und sie war so gutmutig, dass es mir bei der Erinnerung daran den Magen verkrampft. Streunende Hunde, Sonderlinge, Aussteiger – sie hat sich um alle gekummert. Die fertigsten, abgefucktesten Bettler und Obdachlosen, hat ihr alles nichts ausgemacht. Sie hat sie aufgenommen und sie mit Kosenamen bedacht, ihnen Brot gebacken und su?en Tee aufgetischt, bis sie sie bestohlen oder angefangen haben, sich im Wohnzimmer zu prugeln.«

»Sie hort sich beinahe wie eine Heilige an, Josh.«

Er zuckt die Achseln. »Nun, das war nicht gerade die beste Umgebung fur mich oder meine Schwestern, um ganz ehrlich zu sein. Wir sind viel durch die Gegend gezogen, verschiedene Schulen, und jedes Mal wenn wir nach Hause kamen, sa?en neue Fremde auf dem Sofa. Aber ich habe sie trotzdem geliebt.«

»Und ich kann gut verstehen, warum.«

Josh schluckt hart. Jetzt kommt es – der schlimme Teil, der ihn jede Nacht bis zum heutigen Tag heimsucht. Er starrt auf die Schneeflocken. »Es war ein Sonntag. Ich wusste, dass es bergab mit Mama ging. Sie war nicht mehr ganz bei Sinnen. Ein Arzt hat gesagt, dass sie Alzheimer kriegt. Damals haben sich die Untoten bereits in die Nachbarschaft eingeschlichen. Wei?t du, da gab es noch Sirenen, Warnungen im Radio und Fernsehen und das ganze Drumherum. Unsere Stra?e war den ganzen Tag lang gesperrt. Als ich zur Arbeit gefahren bin, sa? meine Mutter am Fenster und starrte auf diese wandelnden Leichen. Sobald eine durch die Absperrung kam, wurde sie von den SWAT-Typen liquidiert. Ich habe mir nichts dabei gedacht, habe angenommen, dass alles unter Kontrolle sei.«

Er halt inne, aber Lilly sagt nichts. Beiden ist klar, dass er es erzahlen, es mit einem anderen Menschen teilen muss, damit die Geschichte ihn nicht fur den Rest seiner Tage von innen her auffrisst. »Dann habe ich spater versucht, sie anzurufen, aber es hat nicht geklingelt. Habe es auf die Telefongesellschaft geschoben und gedacht, dass keine Neuigkeiten gute Neuigkeiten sind. Ich glaube, ich war um halb sechs fertig mit der Arbeit.«

Er schluckt erneut, hat einen Frosch im Hals. Josh spurt, wie Lilly ihn anstarrt.

»Ich kam um die Ecke, wollte in meine Stra?e einbiegen. Habe den Ausweis herausgeholt, ihn den Leuten an der Absperrung gezeigt. Erst dann habe ich gesehen, dass genau vor unserem Haus irgendetwas los war. Die SWAT-Leute surrten wie Bienen hin und her. Hab vor unserem Haus geparkt. Die fangen an, mich anzubrullen, dass ich von hier verschwinden soll. ›Immer mit der Ruhe‹, rufe ich zuruck, ›ich wohne hier‹. Schlie?lich haben sie mich durchgelassen. Ich sehe von unten, dass die Tur zu unserer Wohnung weit offen steht. Es wimmelt nur so von Bullen, und sie tragen so eine Schachtel …«

Josh bringt es nicht ubers Herz. Er holt Luft, sammelt sich, um weitermachen zu konnen, wischt sich die Augen trocken. »Sie trugen, wie nennen sie es? Ach, ich wei? auch nicht, aber da tun sie Organe und so rein. Jetzt bin ich am Rennen, die Stufen hinauf, zwei auf einmal. Ich glaube, ich habe einen Bullen umgesto?en. Als ich im zweiten Stock angekommen bin, sehe ich eine ganze Horde von Typen in Schutzanzugen. Ich drange mich zwischen ihnen hindurch und sehe …«

Josh spurt, wie die Trauer in ihm aufwallt, droht, ihn zu ersticken. Er halt erneut inne, versucht, nach Atem zu ringen. Seine Tranen brennen ihm in den Augen und bahnen sich endlich ihren Weg seine Wangen hinab.

»Josh, du musst nicht …«

»Nein, geht schon. Und doch, ich muss … Als ich das gesehen habe … Ich wusste sofort, was geschehen ist. Das Fenster stand offen, der Tisch war gedeckt. Mama hat das beste Geschirr herausgeholt, das von ihrer Hochzeit. Du kannst dir das Blut nicht vorstellen. Ich meine, als ob jemand die Wohnung mit Rot angemalt hatte.« Er merkt, dass seine Stimme nachgibt. »Da lagen mindestens sechs von den Dingern auf dem Boden. Die SWAT-Typen mussen sie plattgemacht haben. Von Mama war … Von Mama war nicht viel ubrig geblieben.« Die Erinnerungen schnuren ihm die Kehle zu. Er schluckt, zuckt bei dem Schmerz in seiner Kehle zusammen. »Teile von ihr lagen auf dem Tisch. Neben dem guten Geschirr. Ich habe ihre … Habe ihre Finger gesehen. Angenagt, abgenagt, neben der Sauciere. Das, was von ihr ubrig geblieben war, zusammengesackt auf dem Stuhl … ihr Kopf zur Seite geneigt … der Hals aufgerissen …«

»Okay, Josh … Es ist wirklich nicht notig, dass … Es tut mir leid … Es tut mir ja so leid!«

Josh blickt sie an. Es kommt ihm vor, als ob er Lilly in einem ganz neuen Licht sieht, als ob sie unscharf vor ihm schwebt. Ihre Augen scheinen so weit weg wie in einem Traum.

Lilly Caul erwidert seinen Blick mit Tranen in den Augen, und ihr Herz zieht sich zusammen. Sie will ihn halten, diesen sanften Koloss trosten, seine gigantischen Schultern streicheln und ihm sagen, dass alles wieder gut werden wird. Sie hat sich noch nie einem menschlichen Wesen so nahe gefuhlt, und es bringt sie beinahe um den Verstand. Sie verdient seine Zuneigung, seine Freundschaft, seine Loyalitat, seinen Schutz, seine Liebe gar nicht. Was kann sie sagen? Deine Mutter ist jetzt an einem besseren Ort? Sie weigert sich, einen derart beruhrenden Moment mit solch schnoden Klischees zu besudeln.

Sie will gerade den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, als Josh mit leiser Stimme anfangt, ohne den Blick von ihr zu wenden: »Sie hat diese Viecher zum Essen eingeladen … Sie hereingebeten … Wie streunende Hunde … Wie immer. Sie hat alle Kreaturen unter Gottes Himmel geliebt.« Der gro?e Mann sackt zusammen, seine Schultern beben, wahrend Sturzbache von Tranen sich von seinem markanten Kinn auf die Jagerjacke ergie?en. »Hat sie wahrscheinlich auch noch ›Liebes‹ genannt … bis zu dem Augenblick, an dem sie sich auf sie geworfen und gefressen haben.«

Dann senkt er den Kopf und sto?t einen furchterlichen Ton aus – halb Schluchzer, halb wahnsinniges Lachen …

Lilly rutscht naher an ihn heran, legt ihm eine Hand auf die Schulter. Zuerst sagt sie nichts. Sie beruhrt seine gewaltigen Hande, die die Schrotflinte auf seinen massigen Oberschenkeln umklammern. Er blickt sie an – sein

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