Gesichtsausdruck lasst ahnen, was in diesem Augenblick in ihm vorgeht. »Tut mir leid, dass ich so …«, beginnt er kaum horbar flusternd.

»Das macht gar nichts, Josh. Ist schon gut. Ich bin hier, bin immer fur dich da. Ich bin hier.«

Er neigt den Kopf zur Seite, wischt sich die Wangen und Augen und versucht zu lacheln. »Sieht ganz so aus.«

Sie kusst ihn – rasch, aber doch auf die Lippen –, kaum mehr als eine freundliche Geste. Das Ganze ist in weniger als zwei Sekunden vorbei.

Josh legt die Flinte zur Seite, umarmt Lilly und erwidert die Geste. Die sich widersprechenden Emotionen flie?en durch Lilly, als der gro?e Mann seine Lippen auf den ihren verweilen lasst. Sie fuhlt sich, als ob der Schnee sie davontragt. Sie versteht die tieferen Gefuhle nicht, die sie schwindelig werden lassen. Tut der Mann ihr leid? Manipuliert sie ihn etwa schon wieder? Er schmeckt nach Kaffee und Rauch und Fruchtkaugummi. Der kalte Schnee legt sich auf Lillys Augenlider, die Hitze von Joshs Lippen schmilzt die Kalte. Er hat so viel fur sie getan. Sie schuldet ihm so viel, ihr Leben und mehr. Sie offnet den Mund, druckt ihre Brust gegen die seine, aber plotzlich entzieht er sich ihr.

»Was ist los?« Sie schaut ihn fragend an, sucht in seinen gro?en, traurigen braunen Augen nach einer Antwort. Hat sie etwas Falsches getan? Hat sie eine Grenze uberschritten?

»Nichts. Gar nichts, Kleines.« Er lachelt, beugt sich zu ihr hinab und kusst sie auf die Wange. Es ist ein warmer, sanfter Kuss, der mehr verspricht.

»Alles Timing, verstehst du?« Dann liest er die Schrotflinte vom Boden auf. »Ist nicht sicher hier … fuhlt sich nicht richtig an.«

Fur einen Augenblick ist Lilly sich unsicher, ob er damit den Wald oder sie und ihn meint. »Es tut mir leid, wenn ich …«

Er legt ihr sanft einen Finger auf die Lippen. »Ich will nur, dass alles richtig ist … Wenn die Zeit kommt.«

Sein Lacheln ist das so pur, so su?. Lilly hat in ihrem ganzen Leben noch nie ein solch reines Gesicht gesehen. Sie erwidert es, und Tranen steigen ihr in die Augen. Wer hatte das gedacht? Inmitten all dieses Horrors, dieser Katastrophe – ein perfekter Gentleman?

Lilly will gerade etwas sagen, als ein ungewohntes Gerausch ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Josh hort ein entferntes Schlagen von Hufen und drangt Lilly sanft hinter sich. Er hebt den Lauf der Schrotflinte. Das Traben kommt immer naher. Josh entsichert die Waffe.

Zuerst glaubt er, dass er halluziniert. Uber ihnen erscheint eine ganze Herde Tiere. Sie wirbeln Staub und auf dem Boden liegendes Laub hinter sich auf. Zuerst kann man sie gar nicht ausmachen, so schnell sind sie. Die Tiere kommen direkt auf sie zu. »Runter mit dir!« Josh rei?t Lilly hinter den auf dem Boden liegenden Baumstamm am Rand des Flussbetts.

»Was ist das?«, will sie wissen und nimmt hinter dem wurmstichigen Holz Deckung.

»Abendessen!« Josh hebt die Schrotflinte und zielt auf die immer naher kommende Herde Rotwild, hauptsachlich Hirschkuhe. Sie haben die Ohren nach hinten gelegt und die Augen weit aufgerissen. Aber irgendetwas halt Josh zuruck. Sein Herz fangt heftig zu pochen an, er kriegt am ganzen Korper Gansehaut. Plotzlich wei? er, was hier vor sich geht.

»Josh, was ist los?«

Die Herde rennt an ihnen vorbei, bricht Aste ab und wirbelt Steine auf.

Josh richtet die Flinte auf die dunklen Schatten, die hinter den Tieren erscheinen. »Lauf, Lilly!«

»Was? … Nein!« Sie stellt sich hinter dem Baumstamm auf und sieht, wie die Herde durch das Flussbett donnert. »Ich lasse dich nicht allein zuruck!«

»Nun mach schon! Ich bin direkt hinter dir!« Josh zielt mit der Flinte auf die Gestalten, die jetzt die Boschung herabkommen und sich durch das Gebusch kampfen.

Lilly sieht die Schar Zombies auf sie zustolpern. Es sind mindestens zwanzig. »Ach du Schei?e!«

»LAUF!«

Lilly eilt durch den Kies des Flussbetts, rutscht aus, findet erneut Halt und verschwindet dann im Schatten des angrenzenden Waldes.

Josh zielt auf die erste Reihe des immer naher kommenden Schwarms.

Auf einmal, in dem kurzen Augenblick, ehe er abdruckt, sieht er die merkwurdig geformten Gestalten, komisch angebrannte Gesichter und Kostume, die kaum noch zu erkennen sind. Plotzlich wei? er, mit wem er es zu tun hat. Das sind die ehemaligen Besitzer des gro?en Zirkuszelts – es sind die ungluckseligen Mitglieder des Cole Brothers’-Familienzirkus.

Sechs

Josh druckt ab.

Der Schuss ertont, und die Schrotkorner bohren sich in einen der Liliputaner. In sechs Metern Entfernung rei?t es den kleinen Zombie von den Fu?en. Er kracht in drei weitere Zwerge mit blutigem Clown-Make-up und schwarzen Zahnen. Die kleinen deformierten Zombies gehen zu Boden.

Josh wirft einen letzten Blick auf die surrealen Eindringlinge, die ihm immer naher kommen.

Hinter den Zwergen drangt sich eine kunterbunt zusammengemischte Horde von toten Kunstlern und Darstellern auf ihn zu. Ein riesiger, starker Mann mit Zwirbelbart und offen klaffenden Muskeln stolpert neben einer furchterlich fetten, verwesenden Frau auf ihn zu. Sie ist halb nackt, Rollen von Fett verdecken ihre Genitalien. Ihre milchigen Augen stecken tief in ihrem Gesicht wie abgestandener Teig.

Die Nachhut besteht aus einem Haufen toter Zirkusangestellter, Freaks und Schlangenmenschen, die dumpf hinter dem Vortrupp hertaumeln. Schwachmatische Spitzkopfe, ihre winzigen Munder in der Luft schnappend, stolpern neben zerlumpten Trapezkunstlern mit von Wundbrand entstellten Gesichtern; sie tragen zerfetzte, mit Pailletten bestuckte Kostume. Das Pack kommt sto?weise naher – so wild und hungrig wie ein Schwarm Piranhas.

Josh nimmt die Beine in die Hand und uberquert das Flussbett mit einem Satz.

Er sturmt die Boschung hinauf und verschwindet ebenfalls zwischen den Baumen, die Schrotflinte uber die Schulter geworfen. Er hat keine Zeit, sie nachzuladen. In der Ferne sieht er Lilly, die tiefer in den Wald lauft. Er holt sie ein, und zusammen laufen sie nach Osten weiter.

Die beiden tauchen in die Schatten, ehe die Uberreste des Cole Brothers’-Familienzirkus das Flussbett uberquert haben.

Auf dem Weg zuruck zur Tankstelle sto?en Josh und Lilly erneut auf eine Herde Rotwild. Josh zielt und trifft eine kleinere Hirschkuh mit einem einzigen Schuss. Der Knall erschallt, steigt in den Himmel auf – weit genug von Fortnoy’s entfernt, um die Aufmerksamkeit nicht auf ihren Unterschlupf zu lenken. Das Tier zuckt ein letztes Mal und geht zu Boden.

Lilly kann den Blick kaum von dem toten Tier abwenden. Josh bindet seinen Gurtel um die Hinterlaufe und zerrt die dampfende Kuh einen Kilometer hinter sich her bis zur Tankstelle. In dieser verdammten Welt hat der Tod – ob es sich nun um ein Tier oder einen Menschen handelt – an neuer Bedeutung gewonnen.

In jener Nacht hellt sich die allgemeine Stimmung der vorubergehenden Bewohner von Fortnoy’s machtig auf.

Josh nimmt das Tier in der Werkstatt aus, benutzt dieselben Waschbecken, in denen sie sich immer waschen, und zerlegt es. Sie haben jetzt genug Fleisch, um die kommenden Wochen zu uberstehen. Er lagert alles, was sie nicht sofort essen konnen, im Hinterhof und bereitet ein Festmahl aus Innereien, Rippen und Bauchfleisch zu, das er langsam in einem Sud aus Fertigsuppe dunstet, die sie in einer Schublade im Buro gefunden haben. Als Gewurze benutzt er wilden Knoblauch und Brennnesselstiele. Aufgetischt wird das Gelage mit Pfirsichstucken aus der Dose, und sie schlagen sich den Bauch voll, bis keiner mehr einen Pieps von sich geben kann.

Die Zombies lassen sie in Ruhe – es gibt keinerlei Anzeichen der Untoten vom Zirkus oder sonstigen durch die Gegend streunenden Untoten. Wahrend des Festmahls bemerkt Josh, dass Bob die Augen nicht von Megan lassen kann. Der alte Mann scheint ganz besessen von der jungen Frau. Diese Tatsache beunruhigt Josh. Seit Tagen schon hat er sich Scott gegenuber sehr schroff benommen. Nicht dass der Junge in seinem andauernden

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