sehen, und selbst im Schneegestober und der Dunkelheit sind die Kratzer, notdurftig gestopfte Locher und pechschwarze Blutflecken unverkennbar.
Das Ortchen vibriert formlich vor latenter Gewalt. Als ob der Wilde Westen lebt.
Josh halt an, als sich die Turen des Pritschenwagens offnen und ein junger Gehilfe herausspringt. Er eilt zu dem Zaun, der uber die Stra?e verlauft, zerrt an einem Tor, das gerade breit genug ist fur die beiden Trucks, offnet es, und der Pritschenwagen holpert hindurch, mit Josh im Schlepptau.
»Haben so gut an die funfzig Leute hier«, fahrt Martinez fort und zieht genusslich an seiner Viceroy, um den Rauch dann aus dem Spalt im Fenster zu blasen. »Da druben rechts, das ist unser Lebensmittelladen. Da sind samtliche Essens- und Wasservorrate verstaut. Arzneimittel auch.«
Als sie vorbeifahren, sieht Josh ein altes, verblichenes Schild – DEFOREST’S FEED AND SEED. Die Ladenfront ist mit einem Stahlgitter und holzernen Planken versehen. Davor stehen zwei bewaffnete Wachter und rauchen Zigaretten. Hinter ihnen wird das Tor wieder verriegelt, und sie rollen langsam weiter in die sichere Zone. Manche Bewohner stehen herum und schauen zu, wie sie an ihnen vorbeifahren – Leute, die in Gruppen auf Burgersteigen oder Eingangsbereichen stehen. Man kann ihnen die Bedruckung in ihren Augen und Mienen ablesen, auch wenn sie hinter dicken Schals und Mutzen verschanzt sind. Aber keiner von ihnen scheint erfreut, die neuen Gesichter zu sehen.
»Haben einen Arzt an Bord, eine funktionierende Praxis und so weiter und so fort.« Martinez schmei?t den fertig gerauchten Zigarettenstummel aus dem Fenster. »Wir hoffen, den Wall bis Ende der Woche um einen weiteren Block nach hinten zu verschieben.«
»Gar nicht so schlecht organisiert«, meldet sich Bob von der Ruckbank. Seine wassrigen Augen nehmen alles in sich auf. »Aber wenn ich mal fragen darf, was zum Teufel soll das denn da sein?«
Josh folgt seinem ausgestreckten Zeigefinger und sieht das Dach eines riesigen Gebaudes hinter der ummauerten sicheren Zone. In der diffusen Dunkelheit sieht es aus, als ob ein UFO inmitten eines Feldes au?erhalb der Stadt gelandet sei. Es ist umsaumt von einem Feldweg, und dunkle Lichter funkeln durch den Schnee uber dem runden Dach.
»Das war mal eine Rennstrecke.« Martinez grinst breit. Im grunen Schimmern des Armaturenbretts scheint sein Lacheln beinahe wolfisch, gar teuflisch. »Landpomeranzen mogen halt ihre Motoren.«
»Wie, ›war einmal‹?«, hakt Josh nach.
»Der Boss hat letzte Woche ein Machtwort gesprochen. Keine Rennen mehr, zu viel Larm. Zieht die Bei?er an.«
»Es gibt hier einen Boss?«
Das Grinsen auf Martinez’ Gesicht verandert sich. »Mach dir keine Sorgen, Kumpel. Du wirst ihn schon fruh genug kennenlernen.«
Josh wirft Lilly einen Blick zu, die damit beschaftigt ist, wie wild an den Fingerkuppen zu kauen. »Nicht sicher, ob wir lange genug hier bleiben.«
»Das liegt naturlich an euch.« Martinez zuckt unverbindlich mit den Schultern und zieht sich dann fingerlose, lederne Handschuhe an. »Ihr durft aber auch nicht die Vorteile fur beide Seiten vergessen, von denen wir schon geredet haben.«
»Keine Angst, werde ich nicht.«
»Wir haben derzeit keine freien Wohnungen mehr, aber ihr werdet trotzdem irgendwo unterkommen.«
»Gut zu wissen.«
»Sobald wir die Mauer weiter ausgebaut haben, wird es Tausende von Wohnungen geben.«
Josh antwortet nicht.
Martinez hort plotzlich auf zu lacheln. In dem sparlichen grunen Licht macht er auf einmal den Eindruck, als ob er sich an bessere Zeiten erinnert, vielleicht an eine Familie, vielleicht an etwas Schmerzhaftes. »Ich rede uber Wohnungen mit weichen Betten, Privatsphare … Lattenzaune und Baume und so.«
Eine lange Pause folgt.
»Ich will dich etwas fragen, Martinez.«
»Na dann schie? los.«
»Wie bist
Martinez sto?t einen Seufzer aus. »Um ganz ehrlich zu sein, ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern.«
»Wie soll das denn gehen?«
Er zuckt erneut mit den Schultern. »Ich war allein, Exfrau ist gebissen worden. Mein Kind hat sich auf und davon gemacht. Ich habe mich um gar nichts anderes mehr gekummert, als Bei?er ins Jenseits zu befordern. Hab einen ganzen Haufen dieser hasslichen Biester um die Ecke gebracht. Dann wurde ich von ein paar Typen in einem Graben gefunden, und die haben mich hierher geschleppt. Ich schwore auf das Grab meiner Mutter – das ist alles, an das ich mich erinnern kann.« Er neigt den Kopf etwas zur Seite, als ob er noch einmal uber das Geschehene nachdenkt. »Ich bin froh, dass sie es getan haben, insbesondere jetzt.«
»Was soll das denn hei?en?«
Martinez wirft ihm einen Blick zu. »Das hier ist nicht gerade perfekt, aber zumindest befinden wir uns in Sicherheit – und es wird immer sicherer. All das verdanken wir gro?teils dem Typen, der hier das Sagen hat.«
Josh erwidert seinen Blick. »Ist das der Boss, den du gerade erwahnt hast?«
»Genau.«
»Und wann, hast du gesagt, sollen wir ihn treffen?«
Martinez halt eine behandschuhte Hand in die Hohe, was so viel bedeuten soll wie:
Lilly und Josh tauschen erneut einen Blick aus, als der Truck vor ihnen von der Hauptstra?e uber den Marktplatz abbiegt, auf dem eine Statue von Robert E. Lee eine bewachsene Pagode bewacht. Sie fahren auf ein steinernes Regierungsgebaude am anderen Ende des Platzes zu, dessen Stufen in der schneebedeckten Dunkelheit geisterhaft schimmern.
Der Versammlungssaal befindet sich im hinteren Gebaudeteil am Ende eines langen, schmalen Korridors, von dem verglaste Turen an beiden Seiten den Blick auf das Innere von Buros freigeben.
Josh und seine Truppe finden sich in dem chaotischen Durcheinander des Hauptsaals wieder. Ihre nassen Stiefel verunreinigen den sowieso schon geschundenen, holzernen Parkettboden. Sie sind erschopft und nicht in der Laune, auf das Woodbury-Empfangskomitee zu warten, aber Martinez rat ihnen, sich zu gedulden.
Der wassrige Schnee klatscht an die hohen Fenster, und die Minuten verstreichen nur langsam. Der Saal wird von kleinen Heizofen warm gehalten und von Kerosinlampen erhellt. Es sieht ganz so aus, als ob der Saal als Austragungsort mehrerer heftiger Scharmutzel gedient hatte. Der herabfallende Putz weist Anzeichen von vergangenen Gewalttaten auf, der Boden ist mit umgesturzten Stuhlen uberhauft, zwischen denen zerfledderte Akten herumflattern. Josh blickt sich um, sieht Blutspuren an der vorderen Wand neben einer ausgefransten Flagge des Staates Georgia. Generatoren brummen im Keller des Gebaudes vor sich hin, wodurch der Boden permanent bebt.
Sie warten etwas uber funf Minuten – Josh wandert auf und ab, Lilly und die anderen sitzen auf Stuhlen –, ehe Gerausche schwerer Stiefel im Gang hallen. Dann ertont ein Pfeifen. Es kommt immer naher.
»Willkommen, Leute! Willkommen in Woodbury.« Die nasale Stimme, die vom Turrahmen an ihre Ohren dringt, ist tief und voll geheuchelter Freundlichkeit.
Sie drehen sich um.
Sie sehen drei Manner, drei lachelnde Gesichter, die sich mit den eiskalten Augen, die sie anstarren, nicht in Einklang bringen lassen. Der Mann in der Mitte besitzt eine merkwurdige Aura, die Lilly an Pfaue und Kampffische erinnert. »Wir konnen hier immer gute Leute gebrauchen«, sagt er und tritt ein.
Der Mann ist schlank und knochig, tragt einen zerlumpten Matrosenpullover. Sein pechschwarzes Haar hangt fettig von seinem Schadel herunter. Im Gesicht tragt er einen Bartschatten, den er offensichtlich zu einem Fu- Manchu-Schnurrbart heranziehen will. Au?erdem hat er einen kaum merkbaren nervosen Tick, blinzelt viel zu oft.
»Ich bin Philip Blake«, stellt er sich vor. »Und das hier ist Bruce. Bruce und Gabe.«
Die anderen Manner – beide sind schon etwas alter – folgen Blake wie Wachhunde. Sie gru?en kaum au?er einem fluchtigem Gegrunze und Genicke und halten sich stets hinter dem Mann namens Philip.