»Okay. Wir haben eine weitere Baustelle, um die wir uns kummern mussen – wenn bei euch alles klar ist.«
»Schon gut, mach man.«
Martinez nickt kurz, dreht sich um und verschwindet aus ihrem Blickfeld.
Zwei Hauserblocke ostlich der Eisenbahnschienen, unweit der Barrikade, ist ein Kampf ausgebrochen. Nicht dass das etwas Besonderes in Woodbury ist. Zwei Wochen zuvor haben sich die beiden Wachen des Metzgers um eine Ausgabe des
Die meiste Zeit uber finden die Schlagereien nicht im offentlichen Raum statt, sondern irgendwo in einer Wohnung, oft sehr spat nachts. Die Grunde sind in der Regel so bedeutungslos, so trivial, dass man es kaum glauben mag: Jemand wurde schief angeschaut, hat einen Witz erzahlt, den der andere nicht mochte, oder die Menschen gehen einander einfach nur auf die Nerven. Seit Wochen schon zerbricht sich der Governor den Kopf uber diese immer haufiger vorkommenden Streitigkeiten mit ernsten Folgen.
Bis heute aber sind sie so gut wie nie in der Offentlichkeit geschehen.
Jetzt aber passiert es zum ersten Mal am helllichten Tag, direkt an der Essensausgabe vor mindestens zwanzig Schaulustigen … und die Menge scheint an dem Kampf Gefallen zu finden. Die ersten Zuschauer haben sich noch abgewendet, als die beiden Streithahne im eisigen Wind mit blo?en Fausten aufeinander losgegangen sind, ihre wilden Schlage voller Wut, die Augen blitzend vor Rage.
Aber dann sind immer mehr Leute gekommen, und die Atmosphare hat sich geandert. Statt verargerter Rufe sind nun anfeuernde Schreie zu horen. Blutlust macht sich breit. Der Stress der Plage druckt sich in zornigem Brullen, frenetischem Jubeln und wildem Luftboxen aus.
Martinez und seine Wachen erscheinen mitten im Hohepunkt des Kampfs.
Dean Gorman, ein Prolet aus Augusta, mit Heavy-Metal-Tattoos am ganzen Korper, bringt Johnny Pruitt zu Boden – einen dicken, teigigen Kiffer aus Jonesboro. Pruitt, der es gewagt hat, das Augusta-State-Jaguars- American-Football-Team zu kritisieren, schlagt mit einem Keuchen auf der Erde auf.
»Hey, legt mal einen anderen Gang ein, Jungs!« Martinez nahert sich von Norden, die M1 an der Hufte. Sie ist noch immer warm von dem Gemetzel im Eisenbahnlager. Drei Wachen sind ihm auf den Fersen, ebenfalls mit gezuckten Waffen. Als er die Stra?e uberquert, kann er die Kampfhahne in der Menge der begeisterten Schaulustigen kaum ausmachen.
Vor ihm schwebt eine Wolke Staub in der Luft, ab und zu erscheint eine Faust, alles ist von Zuschauern eingerahmt.
»HEY!«
Im Kreis tritt Dean Gorman mit seinen Stahlkappen dem Widersacher Johnny Pruitt in die Rippen. Der dicke Mann zuckt vor Schmerzen zusammen, rollt zur Seite. Die Meute johlt auf. Gorman sturzt sich auf Pruitt, der sich aber zu helfen wei? und seinem Angreifer ein Knie in die Weichteile rammt. Die Schaulustigen schreien begeistert auf. Gorman stolpert zur Seite, die Hande schutzend vor die Leistengegend gehalten, und Pruitt nutzt die Chance und schlagt seinerseits mehrere Male auf Gormans Gesicht ein. Eine Menge Blut schie?t dunkel aus Gormans Nase auf die sandige Erde.
Martinez drangt sich durch den Kreis der Schaulustigen zur Mitte durch.
»Martinez! Warte!«
Ein Griff wie ein Schraubstock halt Martinez zuruck. Er dreht sich blitzartig um und sieht sich dem Governor gegenuberstehen.
»Warte noch etwas«, sagt der drahtige Mann kaum horbar. In seinen tief liegenden Augen glitzert Spannung. Sein dunkler Schnauzbart verleiht ihm etwas Raubtierhaftes. Er tragt einen langen schwarzen Mantel uber einem wei?en Hemd, dazu Jeans und Arbeitsstiefel. Die Rockscho?e des Mantels flattern majestatisch im Wind. Er gleicht einem verwahrlosten Paladin aus dem neunzehnten Jahrhundert, einem selbst ernannten Revolverhelden. »Die Zeit ist noch nicht reif.«
Martinez senkt die Waffe, neigt den Kopf zu den Kampfhahnen. »Ich will nur nicht, dass hier etwas schiefgeht und einer ins Gras bei?t.«
Mittlerweile hat der dicke Johnny Pruitt seine wurstigen Finger um Dean Gormans Hals gelegt und druckt zu. Gorman ringt nach Luft, erbleicht. Der Kampf wandelt sich innerhalb von Sekunden – erst war er brutal, jetzt ist er todlich. Pruitt lasst nicht los. Jubelrufe ertonen aus der Menge. Gorman tritt aus, beginnt zu zucken. Er hat keine Luft mehr, sein Gesicht verfarbt sich, seine Augen treten hervor, und blutiger Speichel flie?t ihm aus dem Mund.
»Mach dir nicht in die Hose, Gro?mutterchen«, murmelt der Governor und starrt mit seinen tief liegenden Augen gespannt auf das Geschehen.
Erst dann merkt Martinez, dass der Governor nicht nur am Kampf selbst interessiert ist. Nein, seine Augen streifen uber die ganze Runde. Der Governor
In der Zwischenzeit wird Dean Gorman in Johnny Pruitts Wurstfingern immer ruhiger. Seine Gesichtsfarbe, vorher noch auberginefarben, erinnert jetzt eher an trockenen Zement. Seine Augen verdrehen sich, und er hort auf, sich zu wehren.
»Okay, das reicht … Kummer dich um ihn«, befiehlt der Governor Martinez.
»WEG MIT EUCH!«
Martinez drangt sich zur Mitte durch, die Knarre in beiden Handen.
Der dicke Johnny Pruitt lasst angesichts des Maschinengewehrlaufs in seinem Gesicht endlich los, und Gorman beginnt, nach Luft zu ringen. »Los, hol Stevens«, befiehlt Martinez einer seiner Wachen.
Die Menge, noch immer aufgewuhlt von dem Spektakel, protestiert. Einige murren, hier und da ertonen sogar Buhrufe. Ein jeder scheint vom Abbruch des Spektakels enttauscht.
Der Governor, etwas abseits vom Geschehen, saugt die Atmosphare in sich auf. Als die Schaulustigen sich endlich zerstreuen – manche schutteln noch mit dem Kopf, beschweren sich –, gesellt er sich zu Martinez, der noch immer uber dem sich windenden Gorman steht.
Martinez blickt den Governor an. »Mach dir keine Sorgen, er wird’s uberleben.«
»Gut.« Dann senkt er den Blick auf den jungen Mann auf dem Boden vor ihm. »Ich glaube, ich wei?, wofur ich die Wachen einteile.«
Zur gleichen Zeit in den Gewolben unter der Rennstrecke flustern vier Manner aufgeregt im Zwielicht ihrer Zelle.
»Das wird nie gut gehen«, gibt der erste zu bedenken. Er sitzt in seinen vor Urin triefenden Boxershorts in einer Ecke und starrt die anderen Haftlinge an, die sich um ihn gesellt haben.
»Halt doch deine Schnauze, Manning«, fahrt der zweite Mann ihn an. Barker, ein schlanker Typ von funfundzwanzig Jahren, starrt die Anwesenden durch lange Strahnen fettigen Haares duster an. Barker war einmal Major Gene Gavins Musterschuler im Camp Ellenwood, Georgia, gewesen. Er war drauf und dran, bei den Special Ops des 221st Military Intelligence Battalion stationiert zu werden. Jetzt aber, dank dem Psycho Philip Blake, gibt es Gavin nicht mehr, und Barker ist zu einem zerlumpten, halb nackten, kriecherischen Sack im Keller einer gottverdammten Katakombe geworden und muss sich von Haferbrei, mit Wurmern verseuchtem, trockenem Brot und Wasser ernahren.
Die vier Wachen sind jetzt schon seit uber drei Wochen hier unten unter »Hausarrest« – seit Philip Blake ihren Commanding Officer Gavin am helllichten Tage vor den Augen Dutzender Zuschauer kaltblutig ermordet hat. Das Einzige, was ihnen jetzt noch gehort, sind Hunger und Wut. Barker ist direkt links neben der verschlossenen Tur an die Wand gekettet. Eigentlich ein guter Platz, um jeden, der in die Zelle kommt, anzugreifen … wie zum Beispiel Blake, der in regelma?igen Abstanden vorbeischaut, um sich Gefangene abzuholen und sie ihrem furchterlichen Schicksal auszuliefern.
»Der ist doch nicht von gestern, Barker«, meldet sich ein dritter Mann namens Stinson von der gegenuberliegenden Ecke zu Wort. Er ist alt und dick, ein typischer Sudstaatler mit schlechten Zahnen, der einmal in einer National Guard Station gearbeitet hat.
»Stinson hat recht«, meint Tommy Zorn. Ihm ist nur die Unterwasche geblieben, die den Blick auf seinen von Ausschlag bedeckten, unterernahrten Korper freigibt. Zorn war ebenfalls bei der National Guard Station angestellt. »Der wird das sofort durchschauen.«
»Nicht, wenn wir vorsichtig vorgehen«, kontert Barker.